Er weiss, was er (nicht) will
Mit dem Dirigenten Philippe Jordan steht demnächst ein international höchst erfolgreicher Zürcher vor dem Orchester. Seine Karriere in elf Schlüsselmomenten.
1974 / Zürich
Am 18. Oktober wird Philippe Jordan geboren, seine Eltern sind der Dirigent Armin Jordan und die Tänzerin Käthe Herkner. Der Bub wächst ganz so auf, wie man sich das vorstellt in diesem Umfeld: Klavierunterricht mit sechs Jahren, Eintritt bei den Zürcher Sängerknaben mit acht, Violinunterricht mit elf. Studium der Klavierpädagogik und Komposition, erste Einsätze als Korrepetitor beim Vater. Erste Assistenz am Festival von Aix-en-Provence, wo Armin Jordan regelmässig dirigiert.
1994 / Ulm
Interessant wird Philippe Jordans Biografie mit der Unterschrift, die er unter den Vertrag als Korrepetitor am Theater Ulm setzt. Deutschland ist nicht Armin- Jordan-Land, und der Sohn geht absichtlich dorthin, um sich «einen Vornamen zu machen», wie er es formuliert. Er will nicht der Jordan-Sohn sein, sondern der Philippe, der sich sein Handwerk von der Pike auf aneignet. Am Klavier, wo er Sänger*innen begleitet; mit Assistenzen, bei denen er erfahrenen Kollegen über die Schulter schaut. Und ab 1996 als Erster Kapellmeister in Ulm.
1998 / Berlin
Daniel Barenboim sucht einen neuen Assistenten, Philippe Jordan wird ihm empfohlen und kann dann gleich Darius Milhauds Oper «Christoph Kolumbus» als eigene Produktion übernehmen. Es passiert, was vielen Barenboim-Assistent* innen passiert: Jordan wird weiträumig wahrgenommen. Vielleicht noch nicht gerade als «Dirigent von Weltruf», wie es bei Wikipedia heisst. Aber auf jeden Fall als Dirigent, den es zu beobachten gilt. Das ist schon viel für einen 24-Jährigen.
2001 / Graz
Klein, aber fein: Das Opernhaus in Graz ist ein beliebtes Sprungbrett für Dirigent*innen, Intendant*innen, Sänger*innen, und auch Philippe Jordan nutzt es. Hier übernimmt er seinen ersten Job als Chefdirigent, und was in der ersten Zeit passiert, fasst er mit dem Begriff «Zauber» zusammen. Aber die Magie ist bald einmal weg. Der brüske Abgang der Intendantin und Verbündeten Karen Stone und fehlende politische Unterstützung sind für ihn 2004 Gründe genug für die Nichtverlängerung seines Vertrags. Es ist das erste, aber keineswegs letzte Beispiel dafür, dass Jordan – Prestige hin, sicherer Job her – jederzeit bereit ist, die Notbremse zu ziehen, wenn er das künstlerisch für nötig hält.
2004 / Zürich
Der Zürcher Operndirektor Alexander Pereira fragt Philippe Jordan als Nachfolger für Franz Welser-Möst an. Was für ein Angebot! Chefdirigent in der Heimatstadt, an einem grossen Haus, in dem er einst als Erster Knabe in der «Zauberflöte» auf der Bühne stand! Aber Jordan sagt ab (Welser-Möst wird dann sein eigener Nachfolger). Er will vorerst keine feste Position, sondern Erfahrungen sammeln als Gastdirigent an zunehmend renommierten Bühnen. Er hat auch keine Lust auf Vergleiche mit dem Vater, der in den 1960er-Jahren als Kapellmeister am Zürcher Opernhaus wirkte. Als ihm Pereira trotz der Absage diverse Produktionen zuschiebt und ihn bei einer Wiederaufnahme 2009 auch seinen ersten «Ring» dirigieren lässt, freut er sich dennoch – und nutzt die Chance: In der NZZ wird seine kraftvolle Wagner-Interpretation als «ungemein belebend» gerühmt.
2005 / Salzburg
Mozarts «Così fan tutte» bei den Salzburger Festspielen? Die meisten Jungdirigent* innen würden alles geben für ein solches Engagement. Auch Philippe Jordan sagt zu, im Sommer 2004 dirigiert er die Produktion. Aber die Regie von Ursel und Karl-Ernst Herrmann passt ihm nicht: Das Klavier steht als Teil der Inszenierung auf der Bühne, er kann die Rezitative nicht selbst begleiten und hat damit «wenig Einfluss auf Tempi, Farben, Charakterisierungen», wie er gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagt. Das will er im Folgejahr ändern. Man verhandelt und scheitert, Philippe Jordan streicht die Salzburger Termine aus seiner Agenda (und für viele Jahre auch seine Salzburger Perspektiven). Immerhin erntet er positive Schlagzeilen: als einer, der bereit ist, für seine Ideale auf einen ebenso glamourösen wie lukrativen Auftritt zu verzichten.
2009 / Paris
Die nächste grosse Anfrage kommt aus Paris, die Oper braucht endlich wieder einen Chefdirigenten. Jordan sagt einmal mehr ab, das Haus scheint ihm eine Nummer zu gross zu sein. Aber den Vorschlag, auch hier einen «Ring» zu dirigieren, akzeptiert er dennoch gern. Ein paar Monate später unterschreibt er dann doch – weil ihm klar wird, dass sich seine Vorstellungen nur in einer Institution realisieren lassen, die er tatsächlich lenken kann. Spätestens hier ist er nun ganz oben angekommen, auch im wörtlichen Sinn: Sein Büro im achten Stock der Bastille-Oper bietet einen grandiosen Ausblick über die Stadt.
2010 / Bayreuth
Der isländische Vulkan Eyjafjallajökull bricht aus, der Flugverkehr ist weiträumig lahmgelegt. Philippe Jordan fährt deshalb im Frühling 2010 mit dem Auto von Berlin nach Zürich, kommt auf dieser Fahrt auch in Bayreuth vorbei und beschliesst, sich dort endlich einmal eine Probe anzuhören, um die besondere Akustik zu erleben. Er tut es wenige Wochen danach. Und ist deshalb «auf dem Radar», als Daniele Gatti drei Wochen später als Dirigent des «Parsifal» 2012 aussteigt. Nach dieser Wiederaufnahme erhält Jordan mit den «Meistersingern» 2017 seine erste reguläre Bayreuther Produktion.
2013 / Zürich
Philippe Jordan dirigiert seit seinem Start in Paris nicht mehr oft in seiner Heimatstadt. In der Tonhalle Zürich, wo er im Jahr 2000 als 26-Jähriger in einem Kinderkonzert seinen Einstand gegeben hatte, steht er im Dezember 2013 wieder einmal auf dem Podium und bringt neben dem Publikum auch den NZZ-Kritiker zum Jubeln: Schön gestaltetes Programm, emotionale Intensität, Geschmeidigkeit, Brillanz, Wärme, strukturiertes Forte, Kultur des Leisen – alles da: «Und nicht zuletzt scheint er jedem Musiker umsichtig zur Seite zu stehen, worauf das Tonhalle-Orchester mit einer Präsenz sondergleichen reagierte.» Kurz flackern in den Medien Gerüchte auf, Jordan könnte David Zinmans Nachfolge antreten. Aber da ist er schon wieder weg, für ziemlich genau zehn Jahre.
2014 / Wien
Lange hat er sich vor allem für die Oper interessiert, nun übernimmt Philippe Jordan mit den Wiener Symphonikern erstmals die Verantwortung für ein Sinfonieorchester. Mit einem klaren Ziel: Er will das Orchester aus dem Schatten der Wiener Philharmoniker herausholen, ihm ein eigenständiges Profil und mehr Selbstvertrauen geben. Sechs Jahre lang bleibt er. Bis ihm der gefährlichste Job im Klassik-Betrieb angeboten wird: jener als Musikdirektor der Wiener Staatsoper. Wo er doch noch zu den Wiener Philharmonikern kommt.
2022 / Wien
Das Klischee bestätigt sich, das Abenteuer Staatsoper Wien wird ein kurzes. Zwei Jahre nach Amtsantritt wird im Oktober 2022 bekannt, dass Philippe Jordan seinen bis 2025 laufenden Vertrag nicht verlängern wird. Die Begründung liefert er in klaren Worten: «Modernes Theater muss nicht notwendigerweise eine ästhetische Zumutung für das Publikum und sechs Wochen handwerklicher Dilettantismus für die Mitwirkenden sein.» Intendant Bogdan Roščić kontert, er selbst sei es gewesen, der den Vertrag des Dirigenten nicht habe verlängern wollen. Wie auch immer: Man darf annehmen, dass seit der Ankündigung von Philippe Jordans Abgang schon einige Angebote bei ihm eingetroffen sind. Wenn eines passt, wird er es annehmen. Aber nur dann.