Anna Thorvaldsdottir (Foto: Saga Sig)
Creative Chair: Anna Thorvaldsdottir

Kraft tanken auf Island

Ihre Skizzen zeigen Klanglandschaften, ihre fertigen Werke ergründen unser Innerstes: Anna Thorvaldsdottirs universelle Musiksprache bewegt Menschen in New York, Berlin, Reykjavík und an vielen anderen Orten. Nun kommt sie als Creative Chair nach Zürich.

Ulrike Thiele

Während Landschaften vorbeifliegen und sich ständig verändern, bleiben die Gedanken klar – ich schreibe gerne, während ich Zug fahre. Für Anna Thorvaldsdottir wäre das undenkbar: Zwar liebt sie es, als Komponistin überall auf der Welt mit «diesen erstaunlichen Menschen» zusammenzukommen, die ihre Musik aufführen. Aber das Reisen an sich ist für sie eher ein notwendiges Übel – sie ringt um Worte, wenn man sie danach fragt, denn sie ist ein freundlicher Mensch. Und ihre Aussagen formt sie mit Bedacht, sie sollen wirklich den Kern dessen treffen, was sie aussagen möchte: «Ich reise wirklich nur für die Musik. Wenn ich unterwegs bin, versuche ich, es ruhig angehen zu lassen und mich während der Reise zu entspannen, da ich in dieser Zeit nicht an meiner Musik arbeiten kann.»

Überall Bäume

Ihre Musik komponiert sie in ihrem Arbeitszimmer, im Süden von London. Es ist ein heller Raum mit weissen Wänden, an die sie ihre eindrucksvollen Skizzen hängt, wenn sie sich einem neuen Werk annähert. «Diese Skizzen sind keine Notation per se. Sie sind eine Manifestation der frühesten Ideen», betont sie. Später brauche es viel Zeit, um die richtige Partitur zu schreiben: «Man kann nicht wirklich planen, wie lange man für die Bearbeitung braucht … (lacht). Da ist es gut, sich daran zu erinnern, was die erste Idee war. Mir fällt es leicht, diese visuellen Dinge mit dem zu verbinden, was ich höre. Ich notiere manchmal auch etwas Text hinein, Harmonien oder Tonhöhen.»

«Diese Skizzen sind keine Notation per se. Sie sind eine Manifestation der fühesten Ideen.» (Foto: Hrafn Asgeirsson)

Sie fühlt sich wohl an diesem Ort und kann sich hier entfalten. Doch als sie nach England zog, brauchte sie eine Weile, um sich an das neue Umfeld zu gewöhnen, «an die engen Strassen, wo man an jeder Ecke von Bäumen umgeben ist». Das kann befremdlich sein, wenn man in Island aufgewachsen ist. «Beides ist auf seine Art wirklich schön. Aber ich habe das Gefühl, dass ich die offenen isländischen Räume organisch in mir trage und dass sich das in meiner Musik auf eine bestimmte Weise manifestiert, auch wenn ich nicht bewusst darüber nachdenke.»

Karge Landschaften, innerer Wohlfühlort

Dabei spürt man im Gespräch mit Anna Thorvaldsdottir, dass sie sehr bewusst über viele Dinge nachdenkt – über ihre Wortwahl ebenso wie über die Wahl ihrer musikalischen Mittel oder eben über ihre Herkunft: «Meine isländischen Wurzeln sind immer noch sehr stark. Ich fahre sehr gerne zurück, ich bin mindestens jeden zweiten Monat dort: manchmal für die Arbeit und manchmal einfach, um meine Batterien aufzuladen.»

Und um den Kopf frei zu machen, den Blick schweifen zu lassen über die unverbauten, kargen Landschaften – fast ohne Bäume. Anna Thorvaldsdottir möchte nicht romantisieren, mit ihrer Musik nicht illustrieren, erst recht keine verklärten Vorstellungen. «Ein freier Kopf ist mir sehr wichtig, gerade vor einer Uraufführung. Das ist wahrscheinlich eines meiner wichtigsten ‹Werkzeuge›, um meine Musik zu finden und zu schreiben. Es geht um einen inneren Wohlfühlort.»

Morgens Orchester, abends Club

Doch auch ohne Island-Klischees zu bedienen, kommt man nicht umhin, die Besonderheiten dieser Insel im Norden anzusprechen. Gerade in Bezug auf Musik hat das Land so viel zu bieten, schwärmt Anna Thorvaldsdottir: «Es gibt tatsächlich eine sehr grosse und sehr vielfältige Musikszene in Island, vor allem für eine so kleine Bevölkerung. Und die Menschen arbeiten auch zwischen den Genres.» Das schaffe eine besondere Aura für die Musik. Und es ist keineswegs ungewöhnlich, «dass jemand zum Beispiel morgens im Sinfonieorchester probt und dann abends irgendwo im Club in einer Popband spielt». Musiker*innen und die Menschen allgemein arbeiten oft disziplinübergreifend zusammen. Eine derart besondere Atmosphäre Islands lasse die Musikwelt Islands immer weiter erblühen und gedeihen.

Heraus aus dem Schneckenhaus

Der Weg zu ihrer künstlerischen Ausdrucksform führte Anna Thorvaldsdottir zunächst zum Cello. Als Kind und Teenager studierte sie das Instrument sehr intensiv, bis sie zum Komponieren fand. In der Musikschule wurde ein Gruppenkurs «Komponieren» angeboten. Die erste Aufgabe hatte es gleich in sich: ein Streichquartett schreiben. «Oh, ich war so aufgeregt. Und sehr schüchtern. Ich hatte zwar ein Stück vorbereitet, aber ich wollte es dem Lehrer nicht zeigen.» Doch ihm gelang es, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich Anna Thorvaldsdottir öffnete. Er bestärkte sie und gab ihr immer neue Aufgaben: «Nach und nach hat er mich aus meinem Schneckenhaus herausgeholt. Das war nur ein Semester, aber dieser Kurs hat mir eine neue Welt geöffnet, die Welt der Komposition.»

Von da an schrieb sie, jeden Tag ein bisschen mehr – und immer für die Schublade. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihre Musik auch dort zu lassen. Doch dann eröffnete die Kunstakademie Islands eine Kompositionsklasse. «Ich hatte schon eine Menge Stücke geschrieben, sogar eine Sinfonie – diese hatte ich natürlich niemandem gezeigt. Aber ich habe sie in eine Mappe gepackt und mich beworben. Es war wie eine Leidenschaft, die mich komplett einnahm.» Ein erster Wendepunkt in ihrem Leben.

Anna Thorvaldsdottir (Foto: Hrafn Asgeirsson)

Und es gab noch einen zweiten: ein selbstorganisiertes Konzert an einem Sommertag Anfang August, zu Beginn der 2000er-Jahre. Zusammen mit Freund*innen präsentierte sie eigene Kompositionen in einer Kirche in Reykjavík: «Zum Glück habe ich selbst mitgespielt, so hatte ich keine Zeit, nervös zu sein. Ich war mit Üben und mit den Vorbereitungen beschäftigt. Ich bin heute noch erstaunt über meinen Mut von damals, aber ich spürte auf einmal diese pure Entschlossenheit. Es war der richtige Moment.» Danach zog es sie endgültig heraus aus ihrem «Schneckenhaus»: Sie ging nach Kalifornien und machte dort ihren Master und ihren PhD in Komposition.

Schönheit, Wachstum, Tod

Die Leidenschaft für das Komponieren hat Anna Thorvaldsdottir geradezu durchdrungen. Jedes noch so scheinbar banale Stichwort füllt sie mit gehaltvollen Gedanken und schlägt die Brücke zur Musik. Zum Beispiel, als ich sie nach ihrer Lieblingsblume frage: Einfach ein Gewächs zu benennen, würde ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht werden.

«Für mich stehen Blumen für so viele verschiedene Dinge im Leben, von Schönheit und Wachstum bis hin zum Tod – und allem, was dazwischenliegt. Ich denke oft über meine Musik im Sinne von ‹erblühen› nach. Wenn ich komponiere, erlaube ich den Ideen, organisch zu entstehen und auf natürliche Weise zu dem zu werden, was sie sind.»

Schwarze Löcher und Möbiusband

Organisch entwickeln sich auch die musikalischen Strukturen in ihren Werken. Sogar wenn in der Partitur Abschnitte oder Sätze durch Zwischenüberschriften markiert sind – klingend verwachsen diese Teile meist zu einem Ganzen.

Bereits die Titel ihrer Kompositionen sind zugleich Andeutung und Camouflage: «Archora», «Catamorphosis», «Metacosmos» heissen ihre grossen Orchesterwerke. «Bei ‹Archora› war die Kernidee das Spiel zwischen einer Ur-Energie und dem Nachglühen. Bei ‹Catamorphosis› ging es um die polaren Verschiebungen zwischen Dunkelheit und Positivität. Bei ‹Metacosmos› war es die Idee, in eine Kraft hineingezogen zu werden, die viel grösser ist als man selbst.»

Die Wörter oder Wortteile bedeuten etwas, aber hebeln nicht selten sofort die Sprachlichkeit aus. Denn auch hier geht es der Komponistin um die Musik selbst: «All diese Inspirationen sind nur Mittel und Wege, welche die musikalische Vorstellungskraft beflügeln. Es ist also nicht so, dass ich versuche, etwas durch die Musik zu erklären. Es sind für mich Impulse, die Musik erschaffen, die natürlich völlig für sich alleine steht.»

Erfrischend ist bei Anna Thorvaldsdottir, wie sie sich selbst bei den Inspirationen noch dem letzten althergebrachten Stereotyp entzieht. Sie liebe Kunst und es sei gut, viel Kunst zu kennen. Aber nein, nicht als Ausgangspunkt für ihre Musik.

«Ich stelle viele Nachforschungen an, wenn ich an bestimmten Elementen arbeite. Ich habe zum Beispiel viel über Schwarze Löcher gelesen, als ich ‹Metacosmos› komponiert habe. Und für ‹Catamorphosis› über das Möbiusband. Ja, ich lese eine Menge Texte. Nur vielleicht keine Gedichte.»

September 2024
So 22. Sep
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veröffentlicht: 12.08.2024