Ein Jahr, ein Werk
In dieser Saison hat sich der isländische Pianist Víkingur Ólafsson ganz den «Goldberg- Variationen» von Johann Sebastian Bach verschrieben.
Glenn Gould, András Schiff, Lang Lang – die Liste der renommierten Pianist*innen, die sich an eine Einspielung von Johann Sebastian Bachs «Goldberg-Variationen» gewagt haben, ist lang. Weit über 100 Mal ist das Werk schon aufgenommen worden. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass es sich nicht lohnen würde, sich immer wieder neue Interpretationen anzuhören, die zum Teil nicht unterschiedlicher sein könnten.
Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson hat einst in einem CD-Booklet-Text erklärt, weshalb Bachs Werke die Interpret*innen bis heute in ihren Bann ziehen: «Durch ihre prinzipielle Offenheit ist Bachs Klaviermusik gewissermassen ein musikalischer Spiegel für unterschiedliche Generationen von Pianist*innen in moderner Zeit geworden, der deutlich den Geschmack und die Werte jeder Ära wiedergibt. Während die Beliebtheit mancher Werke mit der Mode wechselt, bleiben andere immer en vogue, sind aber hinsichtlich ihrer Auffassung und Interpretation radikalen Veränderungen unterworfen. Der Bach von heute klingt in der Regel ganz anders als der Bach von vor 30 Jahren oder gar der von vor 50 Jahren. In diesem Sinne ist seine Musik eher zeitgenössisch als klassisch. Sie hat das Potenzial, heutzutage mehr oder weniger so neu zu erscheinen wie vor 300 Jahren.» Aus den Worten wird deutlich: Der Pianist, den die «New York Times» einst den «isländischen Glenn Gould» nannte, schwärmt für Johann Sebastian Bach.
«Bach ist die musikalische Liebe meines Lebens»
Schon früh wurde Víkingur Ólafsson durch die Musik des ehemaligen Thomaskantors geprägt. Seine Mutter, auch eine Pianistin, die in Berlin studiert hat, dürfte dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben. Heute gilt der vielfach ausgezeichnete Ausnahmekünstler als ein Meisterinterpret der Klavierwerke Bachs. Es heisst, dass er seinen Vertrag bei der Deutschen Grammophon einem Abend verdanke, an dem er Bachs «Goldberg- Variationen» in Island spielte.
«Die Goldberg-Variationen bieten ungewöhnlich pianistischvirtuose Musik, Beispiele genialer Verwendung des Kontrapunkts und zahllose Momente erhabener Poesie, abstrakter Kontemplation und tiefer Emotion – das Ganze in der makellos gestalteten Architektur formaler Perfektion.»
Víkingur Ólafsson über die «Goldberg-Variationen» von Bach
Dies ist nun einige Jahre her. Seine erste Aufnahme bei dem Label erschien 2017. Ungewöhnlicherweise wählte er für sein Debüt-Album Klavier-Etüden von Philip Glass. Ein Jahr später erschien dann sein zweites Album, das – natürlich – ausschliesslich Werke von Bach enthielt. Dieses wurde vom BBC Music Magazine zum «Album des Jahres» gekürt, in der Kategorie «Solistische Einspielung» gewann es einen Opus Klassik. Die Musik des barocken Meisters ist für Víkingur Ólafsson, wie er selbst sagt, das Lebenselixier. Er meint: «Bach ist die musikalische Liebe meines Lebens. Ich kann nicht mehr als ein paar Tage verbringen, ohne seine Werke zu spielen. Für mich gehört Bachs Musik nicht in eine vergangene Epoche, sondern ins Hier und Jetzt.»
88 Konzerte auf sechs Kontinenten
Im Oktober 2023 erschien Víkingur Ólafssons neuestes Solo-Album bei der Deutschen Grammophon: eine Einspielung von Bachs «Goldberg-Variationen». 25 Jahre lang habe er «davon geträumt, dieses Werk aufzunehmen », sagt er – nun hat er es gewagt. Die aktuelle Saison widmet er auf einer Welttournee vollständig den Variationen. Dabei bringt er sie in 88 Konzerten auf sechs Kontinenten zum Erklingen. Auf die üblichen Orchesterund Solokonzerte verzichtet er in seinem «Jahr mit Bach».
Man möchte meinen, das könnte auf Dauer langweilig werden. Doch Víkingur Ólafsson ist der Überzeugung, Bach sei «der grösste Künstler aller Zeiten, Shakespeare und Michelangelo eingeschlossen». Wieso? «Weil seine Partituren keinerlei Anweisungen zu Tempo oder Charakter der Stücke enthalten, musst du alles selbst machen, du wirst quasi zum Mit-Komponisten. Bach enthüllt, wer du bist.» Der Pianist begibt sich also quasi auf eine «Pilgerreise » zur Musik – und zu sich selbst. Bei dieser darf das Publikum in der New Yorker Carnegie Hall, im Wiener Konzerthaus, der Philharmonie de Paris, der Suntory Hall in Tokio, dem Sydney Opera House, der Sala São Paulo, der Shanghai Symphony Hall und an vielen weiteren Orten dabei sein. Und ja, am 19. April 2024 auch in der Tonhalle Zürich.
Bachs «Goldberg-Variationen»: Von der Einschlafhilfe zum Bravourstück
«Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavizimbal mit 2 Manualen Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget »: So lautet der Originaltitel von Bachs «Goldberg-Variationen», die 1741 im Druck erschienen ist. Später gab man der Komposition den heute geläufigen Titel. Er geht auf eine Legende zurück, die Anfang des 19. Jahrhunderts durch den ersten Bach-Biografen Johann Nikolaus Forkel verbreitet wurde. Demnach gab es am Dresdner Hof einen russischen Gesandten, den Grafen Hermann Carl von Keyserlingk. Dieser hatte einen persönlichen Cembalisten namens Johann Gottlieb Goldberg. Da der Gesandte unter Schlafproblemen litt, schrieb Bach seine Variationen angeblich, damit Goldberg ihm diese vorspielen konnte.
Das Werk umfasst 30 Variationen in unterschiedlichen Formen, Satztypen und Gattungen über ein musikalisches Thema (die «Aria», die vielleicht gar nicht von Bach stammt). Die Variationen unterscheiden sich charakterlich stark – und das, obwohl sie (fast) alle in der gleichen Tonart stehen und über derselben Basslinie aufgebaut sind. Heute zählen die «Goldberg- Variationen» zu den ikonischsten Klavierwerken der Musikgeschichte.