Vom Brett zum Klang
Die Steinway-Konzertflügel, die in der Tonhalle Zürich zum Einsatz kommen, wurden in der Hamburger Manufaktur gebaut. Wir haben die Traditionsfabrik besucht.
Am Anfang sind da nur Bretter. Sie liegen in einem zugigen Backsteinbau, in hohen Stapeln, voneinander getrennt durch Holzdübel. Die Luft soll zwischen ihnen durchziehen können, zwei Jahre lang. Dann haben sie rund 85 Prozent ihrer Feuchtigkeit verloren, ein paar weitere Prozent werden ihnen in einem Trocknungsraum ausgetrieben – erst danach können die Klavierbauer von Steinway & Sons beginnen, sie in Instrumente zu verwandeln.
Hier, in diesem Backsteinbau, verraten die Bretter noch keineswegs, was einmal aus ihnen wird. Die Lagerhalle könnte zu irgendeiner Grosstischlerei gehören, auch die Umgebung sieht nicht nach kulturellem Luxus aus. Wir befinden uns in der Peripherie im Hamburger Norden, in der Nachbarschaft gibt es eine Autowerkstatt, ein Fotostudio, einen Reparaturbetrieb für Hydraulikgeräte.
Und doch zeigt sich schon hier, im unspektakulärsten Teil der Hamburger Manufaktur, was die Steinway-Flügel auszeichnet. Denn natürlich könnte man die Bretter auch gleich von Beginn weg in einen Heizraum legen und dort deutlich rascher trocknen lassen; aber man glaubt hier an die Tradition, das Handwerk und die dazugehörige Geduld. Stress ist auch für Holz nicht gut, Qualität braucht Zeit. Viel Zeit.
Kreischen, wummern, stampfen
Ein paar Schritte weiter, im nächsten Gebäude, klingt es allerdings nicht nach Handwerk. In der grossen Fabrikationshalle wird gefräst und geschliffen, die Maschinen kreischen, wummern, stampfen. Es wirkt geradezu paradox, dass in diesem Lärm Dinge entstehen, die dereinst die Ohren verzücken werden; wer hier arbeitet, trägt Gehörschutz. Aber, so sagt die Steinway-PR-Chefin Sabine Höpermann, «die Maschinen werden nur dort eingesetzt, wo sie präziser sind als der Mensch». Rund 80 Prozent der Fertigung sind immer noch Handarbeit.
Auch Augen-Arbeit, das sieht man im Raum neben der Fabrikationshalle. Hier wird Fichtenholz für die Resonanzböden ausgewählt, für jene Bauteile im Innern der Flügel also, die so etwas wie das Herzstück der Instrumente sind. Ist der Resonanzboden schlecht, wird nie ein guter Klang entstehen können. Entsprechend hoch sind die Ansprüche an das Material. Während in anderen Abteilungen gut die Hälfte des getrockneten Holzes verwendet werden kann, werden hier rund 80 Prozent ausgeschieden. Ein Astloch, eine kleine Unregelmässigkeit im Faserverlauf – und schon ist es unbrauchbar.
Apropos Holz: Sechs oder sieben verschiedene Sorten werden für den Bau eines Steinway-Flügels verwendet. Man sieht es in der Fabrikationshalle, etwa bei den Rahmen, die hier aufgestapelt sind. Sie sind aus bis zu zwanzig Schichten gebildet, die dunklen sind Mahagoni, die hellen Ahorn. Als hätten sie schon immer zusammengehört, verbinden sie sich in der wellenförmigen Kontur des Flügelgehäuses.
Die Banausen-Frage, wie sich denn trockenes Holz biegen lässt, wird in einem weiteren Nebenraum beantwortet, in der Rim-Biegerei. Musik scheppert aus einem Radio – kein Debussy-Prélude, sondern ein Abba-Song. Sonst findet die radikale Verwandlung von gerade zu kurvig fast geräuschlos statt: Die Hölzer für den Rim, wie das Gehäuse in der Fachsprache heisst, werden geleimt (und erhalten so ihre Elastizität zurück), dann gepresst und schliesslich in die Form eingespannt.
Das alles geht verblüffend schnell, knapp zehn Minuten, dann sind die letzten Zwingen angezogen. Nach drei Stunden werden sie wieder gelockert, danach ist ein weiteres Mal Geduld gefragt: Rund 100 Tage müssen die Gehäuse nun ruhen, bis sich die Feuchtigkeit des Leims wieder verflüchtigt hat. Erst dann sind sie bereit für die weitere Verarbeitung.
Perfekte Technik, perfektes Image
Spätestens hier wird klar, wie kompliziert die Konstruktion eines Flügels ist. Rund 12'000 Einzelteile werden verbaut, jedes Detail hat seinen Grund. Bis die Perfektion erreicht war, hat es Jahrzehnte gedauert. Wie viel Pionierarbeit die Familie Steinway geleistet hat, lässt sich an den Patenten ablesen, die überall an den Wänden hängen. Mehr als 140 wurden eingereicht, für immer wieder andere Bauphasen und Bauteile.
Parallel zur Technik entwickelte sich auch das Image der Instrumente. Heute ist ein Steinway in der öffentlichen Wahrnehmung der Inbegriff eines Flügels, der Name wird zuweilen als Synonym für das Instrument verwendet. Nahezu jedes Konzerthaus verfügt über Steinways, rund 97 Prozent der Solist*innen setzen auf diese Flügel. Da ist man einem Monopol schon ziemlich nahe. Aus musikalischer Sicht kann man das durchaus kritisch sehen; die klangliche Vielfalt war früher zweifellos grösser als heute. Umso mehr, als auch andere Marken sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an der Steinway- Technik und dem entsprechenden Klangideal orientiert haben.
Das hat historische Gründe: Nach dem Zweiten Weltkrieg war Steinway die einzige Manufaktur, die zuverlässig liefern konnte. Damit erreichte sie nicht nur eine beispiellose Präsenz, sondern setzte auch Standards, die sich bald als praktisch erwiesen. Denn im heutigen Konzertbetrieb sind die Konkurrenz und der Perfektionsdruck so gross, dass die Pianist*innen froh sind, wenn sie sich nicht bei jedem Auftritt wieder auf ein anderes Instrument einstellen müssen. Der übliche Steinway bedeutet ein Problem weniger.
Im privaten Bereich ist die Vielfalt grösser. Instrumente von historisch bedeutenden Herstellern wie Bösendorfer, Bechstein oder Blüthner sind nach wie vor gefragt, auch neuere Firmen wie Fazioli, Yamaha und Pearl River sind gut im Geschäft.
Manche von ihnen decken vom Einsteiger-Instrument bis zum Konzertflügel alle Qualitätsniveaus ab, andere haben sich spezialisiert – wobei sich einige der Topfirmen unter anderem Namen ebenfalls am Massenmarkt beteiligen. Auch Steinway hat eine Marke im günstigen Preissegment: Sie heisst Essex, wird von Pearl River in China gebaut und mit der Aufschrift «Designed by Steinway & Sons» versehen.
Schwarze Tasten können auch rosa sein
Doch zurück nach Hamburg, in die originale Steinway-Manufaktur. Hier sind wir inzwischen in der Abteilung angekommen, in der die Gussplatten verarbeitet werden, an denen im fertigen Instrument die Saiten befestigt sind. Die bis zu 180 kg schweren Rohgüsse werden aus einer firmeneigenen amerikanischen Giesserei geliefert, hier werden sie nun bearbeitet und von Hand geschliffen. Viel Wasser fliesst dabei, die Mitarbeiter in dieser Abteilung sind in Gummistiefeln unterwegs.
Es sind nicht zwingend Klavierbauer. Bei Steinway & Sons arbeiten auch Tischler, Zimmerleute und Möbelschreiner – vor allem Männer, aber die Frauenquote steigt. Nicht allzu schnell allerdings, denn die Fluktuation ist fast rekordverdächtig tief. Auf der Tafel mit den Dienstjubiläen, die im Treppenhaus hängt, sind zwölf Mitarbeiter mit über 50 Steinway-Jahren verewigt; sie haben von der Lehre bis zur Pensionierung ihr gesamtes Berufsleben mit Flügeln verbracht. Viele weitere aus der 490 Menschen umfassenden Hamburger Belegschaft sind auf gutem Weg, es ihnen nachzumachen.
Man meint es zu spüren beim Gang durch die Manufaktur: dieses Gefühl, bei etwas Besonderem dabei zu sein; den Stolz darauf, hier arbeiten zu können. Und auch den Willen, selbst die ausgefallensten Sonderwünsche zu erfüllen: Eine der Gussplatten wird gerade in einen Flügel für eine Kundin in Dubai eingepasst, Vintage-Optik, Nussbaum geseift. Und PR-Chefin Sabine Höpermann erzählt von einem rosa Flügel mit Schmetterlingsmuster und weiss-rosa Tastatur, den ein Vater für seine pubertierende Tochter anfertigen liess.
Da kann man nur hoffen, dass der Farbgeschmack dieser Tochter auch nach der Pubertät anhält. Denn Steinways sind teuer: Unter 90'000 Franken ist kein Flügel zu haben, für Sonderanfertigungen sind die Preise nach oben offen. Erstaunlich ist das nicht, denn abgesehen von den notwendigen Ruhephasen stecken acht bis zwölf Monate Arbeit darin.
Die Suche nach dem perfekten Instrument
Die Beschreibung aller Schritte würde entsprechend Seiten füllen: Wie die Flügel lackiert und dann von Hand so lange poliert werden, bis das ins Holz eingelegte Logo wieder zum Vorschein kommt und die Oberfläche ebenmässig glänzt. Wie sie ihren Klang erhalten, wenn die Saiten, Hämmerchen und Tasten eingebaut werden. Wie dieser Klang danach verfeinert wird, nachjustiert, noch einmal verbessert, tagelang. Wie die Flügel schliesslich verpackt werden, um schadlos die Reisen zu überstehen, die sie per Schiff, Truck oder Flugzeug nach Zürich, Sydney oder Shanghai bringen.
Aber halt, ein Teil der Instrumente bleibt zunächst noch in Hamburg, wir sehen sie auf der letzten Station des Rundgangs, im Auswahlsaal: Je sieben Steinways stehen rechts und links an den Wänden. So kennt man sie, die Flügel; die Geheimnisse im Innern sind verborgen unter dem schwarzen Lack, und fast würde man es bedauern – wenn sich nicht auch hier eine typische Geschichte aus der Steinway-Welt abspielen würde. Eine belgische Familie jubelt nämlich gerade in diesem Auswahlsaal. Stundenlang hat der Junior die Flügel getestet, nun ist der Entscheid gefallen: auf das erste Instrument, das er ausprobiert hatte.
Eine Entscheidung fürs Leben
Es ist – sichtlich – ein ungewöhnlicher Moment für die Familie. In der Regel steht der Auswahlsaal nur Vertretern von Institutionen oder Berufsmusiker*innen offen; Privatpersonen müssen einen Kaufvertrag unterzeichnen, bevor sie auf ihrer Suche nach dem perfekt passenden Instrument in die Manufaktur kommen können.
Manche von ihnen engagieren Profis für diese Auswahl; wer sich einen Steinway leisten kann, blamiert sich nicht mit einem holprigen «Für Elise» beim Flügeltesten. Zudem braucht es geschulte Ohren und Finger, um die Nuancen im Anschlag und im Klang zu erfassen, welche die verschiedenen Flügel desselben Modells unterscheiden. Und es ist ja nicht so, dass man ein Instrument schon bald durch ein nächstes ersetzen würde: Ein Steinway ist zumindest für Hobbymusiker* innen in der Regel eine Anschaffung fürs Leben.
«Die meisten dieser Kunden sehen wir nur einmal», sagt denn auch PR-Chefin Sabine Höpermann, nachdem wir uns von der belgischen Familie verabschiedet haben. In jeder anderen Branche würde dieser Satz als Katastrophe empfunden. Bei Steinway & Sons sagt man ihn mit Stolz: Was drei Jahre vorher noch ein Bretterstapel war, ist zu einem Instrument geworden, das seinen Besitzer aller Wahrscheinlichkeit nach überleben wird.
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Steinway & Sons – Geschichte eines Unternehmens
Am Anfang der Geschichte von Steinway & Sons standen Schicksalsschläge. Heinrich Engelhard Steinweg, geboren 1797 in Wolfshagen im Harz, hatte im Krieg und durch einen Blitzeinschlag seine ganze Familie verloren; mit 15 Jahren musste er allein durchkommen. Er tat es als Möbelschreiner und mit der Reparatur von Orgelpfeifen – und begann, sich für das Fortepiano zu interessieren, das damals zunehmend gefragt war. Mit 39 Jahren, als mittlerweile zehnfacher Familienvater, baute er in seiner Küche den ersten Flügel. Es folgten weitere, die schon bald Auszeichnungen erhielten.
In Folge der Revolution von 1848 emigrierte Heinrich E. Steinweg mit seiner Grossfamilie nach New York; als Henry E. Steinway gründete er dort 1853 seine Manufaktur. Das Unternehmen wuchs rasch, es vergrösserte sich auch nach seinem Tod 1871 weiter; die Söhne und Töchter ergänzten sich als Klavierbauer, Finanzspezialisten und Marketing-Talente bestens. 1880 sicherten sie sich mit der Gründung der Hamburger Manufaktur ihre Position in Europa. Erst im 20. Jahrhundert gab es Krisen: Die Grosse Depression in den 1930er-Jahren sorgte für Geschäftseinbrüche, und während des Zweiten Weltkriegs war der Flügelbau verboten, weil man die Materialien für Kriegsgeräte nutzen wollte; Steinway & Sons produzierten in diesen Jahren Segelflugzeuge, Gewehrkolben und Särge.
1972 verkaufte die Familie Steinway das Unternehmen an Columbia; nach mehreren Zwischenverkäufen gehört es seit 2013 der amerikanischen Investmentgesellschaft Paulson & Co: Sie hatte 512 Millionen Dollar für die Firma bezahlt. Seither hat man vor allem in der digitalen Technik Entwicklungen angestossen: Das Modell «SPIRIO | r» kann Interpretationen in Selbstspieltechnik wiedergeben; seit Oktober 2022 können diese Flügel auch Interpretationen von anderswo live streamen.
Zahlen & Fakten
— Nur 2 Steinway-Manufakturen gibt es: in New York (seit 1853) und in Hamburg (seit 1880).
— 3,5 Jahre dauert eine Klavierbau-Ausbildung.
— 8 Steinway-Modelle werden hergestellt: 7 Flügel und ein Klavier.
— Der längste Steinway-Flügel misst 274 cm, der kürzeste 155 cm.
— Die beliebteste Länge für private Besitzer ist 211 cm.
— Rund 1400 Flügel und 300 Klaviere wurden in den letzten Jahren durchschnittlich in Hamburg produziert; ein Drittel der Produktion geht nach China, Tendenz steigend.
— Durchschnittlich 50 Prozent der Steinway-Flügel werden von Konzerthäusern und Musikhochschulen gekauft, der Rest geht an professionelle und andere Musiker*innen.
— Steinway-Flügel sind in verschiedenen Farben und mit unterschiedlichen Holzfurnieren erhältlich. Der Anteil der traditionellen schwarz lackierten Instrumente beläuft sich in der Hamburger Manufaktur aber nach wie vor auf über 90 Prozent.
— Über 140 Patente haben Steinway & Sons eingereicht.
— Rund 12'000 Einzelteile stecken in einem Konzertflügel.
— Bis zu 20 Tonnen Zuglast müssen die Gussplatten im Inneren des Flügels aushalten.
— 1989 verzichtete Steinway & Sons als erster grosser Flügelhersteller auf die Verwendung von Elfenbein; seither sind die Tasten aus Kunststoff.
— Das 150. Jubiläum im Jahr 2003 feierte man unter anderem mit einer von Karl Lagerfeld designten Sonderedition.