Sie hat das Steuer in der Hand
Die 2002 geborene Geigerin Hana Chang schätzt das europäische Zugnetz und ist als Schülerin von Janine Jansen und Christian Tetzlaff auch in Sachen Karriere schnell unterwegs.
Fünf Stunden Fahrt trennen Hana Changs Wohnort Berlin von der Kronberg Academy, wo sie bei Christian Tetzlaff ihr Bachelor-Studium absolviert. Fünf Stunden – das heisst, wenn die Deutsche Bahn keine Verspätung hätte. Trotzdem nimmt sie gerne den Zug, seit sie in Europa studiert. Denn in den USA – sie kommt ursprünglich aus Lexington, Massachusetts – funktioniere der öffentliche Verkehr nicht gut, erzählt sie. Wenn man in den Suburbs wohne, brauche man ein Auto. In Amerika hat sie noch nie einen Langstrecken-Zug genutzt. Aber hier sei das bequem: «Gerade in der Schweiz ist die Aussicht so schön auf all die Seen. Ich nehme jetzt vermehrt den Zug, um zu Konzerten zu reisen.»
Die Leidenschaft für die Musik wurde bei Hana Chang entfacht, als sie als kleines Mädchen sah, wie ihr Bruder zuhause auf der Geige unterrichtet wurde: «Ich denke, es ist natürlich, so sein zu wollen wie deine älteren Geschwister. » Es habe nie einen Moment gegeben, in dem sie sich aktiv entschieden hätte, den Weg als Violinistin einzuschlagen. Die Musik war schon sehr früh ihr ständiger Begleiter. So hatte sie bereits mit sieben Jahren ihren ersten Solo-Auftritt mit dem New England Conservatory Baroque Chamber Orchestra. Ihre Eltern – die Mutter Dozentin für Japanisch, der Vater in der Software-Branche tätig – nahmen Hana Chang oft zu Konzerten von Sinfonieorchestern mit, was ihre Faszination weiter verstärkte.
Nächster Halt: Sion
Nach 16 Jahren Unterricht in den USA entschied sich Hana Chang für einen Tapetenwechsel und ein Studium in Europa: «Ich wollte wissen, was es da draussen sonst noch gibt.» Ihre erste Station war die Schweiz, genauer gesagt Sion, wo sie an der Haute École de Musique bei Janine Jansen studiert hat. «Ich denke – das kann man Stadt nennen, oder?», schaut sie mich fragend an. Rein rechnerisch ist die Antwort klar: Ja. Sion ist mit über 35’000 Einwohner* innen definitiv eine Stadt. Aber Hana Chang ist als Amerikanerin natürlich andere Dimensionen gewohnt.
In Sion lebte sie zum ersten Mal alleine und war auch mit ganz praktischen Fragen konfrontiert: Wo finde ich eine bezahlbare Wohnung? Wie geht Kochen? Einen richtigen Kulturschock- Moment gab es für sie aber nicht, trotz der grossen Unterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen Lebensweise. Seit ihrer Jugend kam sie jeden Sommer für Meisterkurse und Festivals nach Europa, «so habe ich mich schrittweise an das Leben hier gewöhnt».
«Man gibt dann 150 Prozent»
Janine Jansen und Christian Tetzlaff gehörten schon früh zu ihren musikalischen Idolen. Jetzt, wo sie ihre Vorbilder sehr gut kennt, wirken diese «strahlenden Personen» viel nahbarer, «ich verstehe, wie viel Arbeit hinter ihrer Kunst steckt». Die Tatsache, dass beide regelmässig auftreten und nicht nur unterrichten, mache sie als Mentorin bzw. als Dozent deutlich einfühlsamer. Aufregung, Stress und Verwundbarkeit – das ist ihnen alles auch bekannt: «Die Energie, die sie versprühen, steckt einen an, und man gibt dann 150 Prozent.»
Die Begeisterung ist gegenseitig. Christian Tetzlaff sagt über seine Studentin: «Sie spielt, dass mir die Kinnlade runterfällt.» Und dieser Meinung ist offensichtlich nicht nur er: 2024 wurde Hana Chang als «Rising Star» von Classic FM nominiert und sie ist Mitglied des New Generation Artists-Programms von BBC Radio 3. Dazu ist sie Laureat des Königin-Elisabeth- und des Yehudi- Menuhin-Wettbewerbs.
Im Herzen der klassischen Musik
In Berlin ist sie nun «im Herzen der klassischen Musik» angekommen. Hier könne man jeden Abend ein Konzert auf Spitzenniveau erleben. Zudem biete das hiesige Zugnetz unendliche Möglichkeiten: «Man kann einfach eine Bahn nehmen, ein anderes Land besuchen und damit in eine völlig andere Kultur eintauchen.»
Inzwischen fühlt sich Hana Chang – die im Gespräch von realen auf metaphorische Räder umsteigt – wie die «Lenkerin eines Autos und nicht mehr wie die Beifahrerin». Das will heissen, sie ist dabei, ihre eigene Stimme zu finden. Aber natürlich erhält sie weiterhin Ratschläge von ihren Lehrer* innen, um sich als Lenkerin auf die beste Route zu begeben. Manchmal sei es fast schockierend, wie anders man ein Stück nach einer gewissen Zeit wahrnehme. Es komme auch vor, dass sich schlechte Angewohnheiten wieder einschleichen – zum Beispiel beim Mendelssohn- oder dem Tschaikowsky- Konzert.
Ihr Studium an der Kronberg Academy lässt ihr Raum, um den Sprung von der Beifahrerin zur Lenkerin zu schaffen: Es wird bewusst genügend Zeit für Konzerte eingeplant, sie hat auch nicht jeden Tag Unterricht. Hana Chang befindet sich in ihrer Karriere aktuell in einer Übergangsphase, in der sie immer mehr Möglichkeiten für Auftritte bekommt. Das ist wichtig, um sich klar zu werden, wer man als Solistin sein will – und trägt zu einer soliden Navigation als Autolenkerin bei.
«Ich bin etwas altmodisch»
Wichtig sind für Hana Chang auch die sozialen Netzwerke. Zunehmend sind sie der Ort, um neue Kontakte zu knüpfen. So kommt es vor, dass sich junge Musiker*innen oft zunächst nur digital begegnen: «Man ist Teil einer digitalen Musiker*innen-Community», sagt Hana Chang. «Manchmal hat man das Gefühl, man kenne sich schon recht gut, obwohl man sich erst mal digital getroffen hat. Wir sind im Allgemeinen sehr gut darüber informiert, wer wo spielt.» Social Media kann ein Sprungbrett für Musiker*innen sein, um ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen – auch wenn es bei einem Wettbewerb einmal nicht so rund läuft. Hana Chang hatte einige Videos von Auftritten im Netz, die ihr zu mehr Aufmerksamkeit verholfen haben. Selbstvermarktung und der gezielte Einsatz von Social Media werden immer zentralere Skills, worüber sich die GenZ auch bewusst ist. Trotzdem sollte man mit solchen Zuschreibungen und letztlich Schubladisierungen vorsichtig sein, Hana Chang ist nämlich anders als viele dieser Generation: «In einer idealen, magischen Welt würde ich am liebsten einfach nur üben, mich auf die Musik konzentrieren und nicht über solche Dinge nachdenken müssen. Ich bin in dieser Hinsicht etwas altmodisch. » Es sei ihr auch egal, ob sie mal einen Trend nicht mitmache. Schlussendlich soll die Musik im Zentrum stehen.
Nun tritt Hana Chang im Rahmen der Série jeunes zum ersten Mal in der Tonhalle Zürich auf – womit sie ihr Abenteuer in Europa um ein weiteres Kapitel ergänzt. Ob sie mit dem Zug anreisen wird?
