Gilad Karni (Foto: Joanna Paluch)
Porträt

«Ich will die Bühne»

Gilad Karni ist seit 19 Jahren Stimmführer der Bratschen im Tonhalle-Orchester Zürich. Obwohl sein Wesen noch nicht angekommen ist, möchte der gebürtige Israeli nie mehr weg – was auch mit einem Diamanten aus Antwerpen zu tun hat. 

Melanie Kollbrunner

Gilad Karni sitzt im Park an der Sommersonne, er trinkt seinen Espresso. Es ist viel los in seinem Leben, die Familie reist in diesem Moment aus aller Welt an, die Eltern aus Tel Aviv mit einer seiner Schwestern, die andere kommt von Berlin her, seine Tochter aus Boston, nur der Sohn ist schon da: Gilad wird am Sonntag seine Eugenia heiraten.

«Ich musste 54 Jahre alt werden, um meine wahre Liebe zu finden», sagt Gilad, Eugenia und er seien eine Seele in zwei Körpern, «ich habe es immer vor mir gehabt, dieses Bild einer koscheren, gesunden Beziehung, jetzt ist es lebendig geworden.» Eugenia ist Konzertmeisterin des Berner Sinfonieorchesters, das Paar musiziert gemeinsam und harmoniert ohne jedes Wort der Erklärung, wie er erzählt.

Die Hochzeit: Ein feines Fest am Waldrand in Schwamendingen, wo die beiden leben, ein liberaler Rabbiner, der die Zeremonie leitet, Familie und Freunde, darunter etliche Musikerinnen und Musiker, die aufspielen werden. Kammermusik in allen Facetten, immer wieder samt Gilad und Eugenia, die ihre Flitterwochen im estnischen Pärnu planen, um an Paavo Järvis Festival teilzunehmen. Und in Israel, auch da wird musiziert. Gilad hat seine Bratsche nie länger als zwei Wochen zur Seite gelegt, seit diesem einen Schlüsselmoment im Alter von 17 Jahren – aber eins nach dem anderen.

Fussball statt Tonleitern

Gilad ist in einer Wohnung mit Garten im Norden Tel Avivs aufgewachsen, wo sich damals noch keine Einkaufszentren dicht aneinandergereiht haben, wo Platz war für Ausflüge ins Grüne und fürs Autokino, daran denkt er gern zurück: An die amerikanischen Streifen, ans Popcorn. Und an die Zeltreisen an die Strände von Eilat oder Tiberias, Galiläa oder Haifa.

Daheim wurde viel musiziert. Die Mutter am Cello, es kamen die Tanten zu Besuch für Kammermusik-Abende. Einmal, da brachten sie eine kleine Geige mit und lehrten den siebenjährigen Gilad eine Kindermelodie darauf zu spielen. Die Mutter fand ihm eine Lehrerin in der Nachbarschaft, an der ihn vor allem die blonden Haare faszinierten.

Gilad war faul und wollte lieber Fussball spielen statt üben. Aber seine Mutter blieb dran. Nicht, indem sie streng war: «Sie hat mich geschickt durch diese Zeit manövriert, hat mich Kind sein lassen und nie unter Druck gesetzt und schaffte es, dass ich einfach immer zur Stunde ging.» Der Vater war oft ausser Haus, er war in der Diamantenproduktion tätig. Und so kam es, dass die Familie nach Zypern zog und dann nach Griechenland, weil die Leute seiner Firma in die Kunst des Schleifens eingeführt werden mussten.

Talent statt Noten

Gilad spricht leise und lacht laut. Sein Deutsch hat einen charmanten Akzent, kaum wohl sein Englisch, das er mit elf gelernt hat an der Amerikanischen Schule in Piräus. Als er 13 war, wollte die Mutter zurück nach Israel. Zur Freude der einen Tante, die Grosses mit ihrem Neffen vorhatte: Sie kannte die Direktorin einer Talentschmiede für hochbegabte Kinder, paukte Solfège mit Gilad den ganzen Sommer lang. Nein, hochbegabt sei er nun wirklich nicht, sagt er. Die Schule nahm ihn trotzdem auf, man kaufte ihm das Talent ab. Gilad blieb, wechselte auf die Bratsche und spielte in einem Quartett, das es bis in die Carnegie Hall in New York schaffte.

Mit 17 stand ein wichtiges Konzert an: Eine Brahms-Sonate, am Klavier Gilads damalige Freundin, im Publikum wichtige Leute, aber Gilad kam ohne Noten, er hatte sie zuhause vergessen. Die Direktorin flippte aus. Gilad atmete durch, stellte sich neben den Flügel und spielte die vier Sätze auswendig. Nie zuvor habe er die Musik heisser in seinen Venen gespürt, nie sei er fokussierter gewesen. «Da wusste ich es, dass ich genau das will. Die Bühne.»

Bühne statt Graben

Er studierte an der Manhattan School of Music, stand unter der Schirmherrschaft von Isaac Stern, gewann sechs Preise bei den acht internationalen Wettbewerben, an denen er teilnahm. Er spielte unter Claudio Abbado im Orchestra of a United Europe, feierte kammermusikalische Erfolge und dachte über eine solistische Karriere nach. «If you feel you're a born leader», habe ihm damals Zubin Mehta gesagt, wenn er sich wie ein geborener Anführer fühle, dann gebe er ihm den Kontakt zum Personalmanagement. Mehta war damals Chefdirigenht des New York Philharmonic Orchestra, wo Gilad mit 23 als jüngstes Mitglied begann.

Gilads Weg nach Zürich führte ihn über Stationen als Solo-Bratschist beim Israel Symphony Orchestra, bei den Bamberger Sinfonikern und bei der Deutschen Oper Berlin. Berlin und die Oper habe er sehr geliebt, sagt Gilad, aber der Graben sei nicht seine Welt: Das viele Warten, die Entfernung zum Publikum. So kam es, dass er vor 19 Jahren in Zürich vorspielte und unter David Zinman zum Stimmführer der Violagruppe gewählt wurde.

Schweiz statt Israel

«Musikalisch», sagt Gilad, «fühle ich mich wie ein natural born leader». Zudem fühlt er sich vom Temperament her noch immer eher als Israeli, auch wenn er längst eingebürgerter Schweizer ist. Ob er sich vorstellen kann, je zurückzukehren nach Israel? «Vieles hat sich verändert in meiner Heimat, aber noch immer kocht Tel Aviv, noch immer liebe ich die Stadt», sagt Gilad und will trotzdem nicht zurück. Es mache ihm so viel Freude, sich mit dem sinnlichen Klang der Bratsche inmitten seines Orchesters einzufügen, gerade unter Paavo Järvi.

Paavo habe wie er selbst etwas Besonderes im Orchester wahrgenommen: «Er mochte, wie wir aufeinander reagieren, wie wir auf ihn reagieren.» Auch was nicht geprobt sei, funktioniere. «Wir folgen ihm überall hin.» Nein, Gilad will nicht mehr weg. Er liebt die Ruhe in der Schweiz, liebt seine Arbeit im Orchester, seine Kammermusik und seine Eugenia, an deren Finger nun ein fast einkarätiger Diamant glitzert. Gilad hat ihn in Antwerpen für sie gekauft, in ihrer Heimat.

veröffentlicht: 08.09.2022