
Wachsen mit Musik
Anna Vinnitskaya ist in einer Pianistenfamilie gross geworden. Ebenso prägend war, dass sie dann ihren eigenen Weg fern von zu Hause suchte.
«Nur durch meine Eltern, die das so gut und professionell gemacht haben, bin ich auf das Niveau gekommen, auf dem ich mich jetzt befinde», erzählt Anna Vinnitskaya. Es sei aber «auf jeden Fall anstrengend» gewesen, in einer Pianistenfamilie aufzuwachsen. Ständig war sie unter Beobachtung, jederzeit konnte sie korrigiert werden. Ihr Vater, der Jazz unterrichtete, habe sich eher zurückgehalten. Mit ihrer Mutter jedoch verbrachte sie «Stunden, wo sie neben mir sass und sagte, was ich machen soll». Waren ihre Eltern einmal nicht zu Hause, habe sie auch «geschwänzt», denn, so sagt die 1983 geborene Russin über sich selbst, «ich war ein ganz normales Kind und spielte gern – auf dem Klavier oder mit dem Ball. Üben dagegen fand ich eher mühsam».
Vierhändige Entdeckungen
Mit ihrer damaligen Klavierlehrerin unterhielt sie sich über Literatur, und zusammen erkundeten sie – in Arrangements für vier Hände – die grossen Orchesterwerke. Dabei lernte Anna Vinnitskaya die Weite der Musikwelt kennen. «Quasi eine Entspannung» sei das gewesen, sagt sie, denn der Kontrast zur Arbeit mit ihrer Mutter war beträchtlich. Auf spielerische Weise brachten sie und ihre Lehrerin jene Musik zum Erklingen, die sie in der Sowjetunion ansonsten gar nicht oder nur auf Schallplatten hörte: «Durch dieses Zusammenspiel habe ich die Begeisterung für Musik behalten und weitergeführt.» Und je mehr sie entdeckte, desto mehr verstand sie auch, was die Kompositionen ihr schenkten – etwa, als sie ihre erste Schubert-Sonate spielte: «Das war für mich wie eine Welt, die sich geöffnet hat. Das war quasi meine Liebe, ich habe mich so in diese Musik vertieft.»
Motiviert und angespornt von solchen innigen Momenten, gewann sie mit zwölf Jahren in Moskau ihren ersten Wettbewerb und entwickelte zunehmend ihren eigenen Zugang zur Musik. Heute weiss sie längst: Mit einem Werk will sie eine Geschichte erzählen. So auch mit Schumanns Klavierkonzert, das sie demnächst in Zürich spielt: Es ist für sie «Romantik pur, im guten Sinn», die Spannung hält «vom Anfang bis zum Ende».
Neuer Ort – erweiterte Familie
Der Weg bis zu diesem Punkt war für Anna Vinnitskaya kein leichter – trotz ihres umsorgenden, behütenden Umfelds. Sie selbst war es, die sich dort herauskatapultierte, als sie mit 18 Jahren nach Hamburg zog und «diesen harten Start» erlebte, der für ihren Werdegang so wegweisend war: «Das hat mich auch als Mensch robuster gemacht. Ich habe unglaublich viel gelernt.»
Allein war sie in dieser neuen Welt allerdings nicht. Neben ständigen Besuchen in ihrer Heimat fand sie in Hamburg mit Evgeni Koroliov nicht nur einen Professor, einen Mentor und ein Vorbild, sondern mit ihm und seiner Frau auch eine Familie: «Wie sie die Dinge sehen, wie sie leben und wie sie so ehrlich zur Musik sind, das beeindruckt mich sehr. Sie sind wie ein Leuchtturm für mich.»
Von einer Generation zur nächsten
Es ist ein dankbarer und zugleich analytischer Blick, den Anna Vinnitskaya auf ihre Karriere wirft. Mit derselben wertschätzenden und zugleich fordernden Haltung tritt sie der nächsten Generation gegenüber. Seit mehr als 15 Jahren gibt sie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg heranwachsenden Talenten ihr Wissen weiter und entdeckt dabei auch für sich selbst neue Werke. Stets ist sie darauf bedacht, ihren Student*innen innerhalb des stilistischen Rahmens möglichst viel Freiraum zu geben. Auf diese Art begleitet sie die jungen Talente, die sie als «unglaublich mutig, kreativ und interessant» beschreibt, genauso aufmerksam, wie sie es selbst einst erlebt hat.