Joana Mallwitz, Pekka Kuusisto (Fotos: Nikolaj Lund, Bard Gundersen)
Interview

Alles neu hier

Die Dirigentin Joana Mallwitz und der Geiger Pekka Kuusisto arbeiten in Bryce Dessners Violinkonzert erstmals zusammen. Sie treten auch zum ersten Mal in der Tonhalle am See auf. Was bedeuten solche Debüts?

Interviews: Susanne Kübler

Sie treten erstmals gemeinsam auf. Bereiten Sie sich aufeinander vor?

Joana Mallwitz: Das Wichtigste ist, dass ich mich selbst sehr gut vorbereite auf das Konzert und dann offen und durchlässig bin für das, was passiert. Aber natürlich kenne ich Pekka Kuusisto, ich erlebe ihn als sehr vielseitigen und ungewöhnlichen Musiker, mit spannenden, ausgefallenen Programmideen. Ich freue mich sehr darauf, endlich gemeinsam mit ihm auf der Bühne zu stehen!

Pekka Kuusisto: Ja, ich bereite mich schon vor. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen haben bereits mit Joana Mallwitz gespielt, ich habe gehört, sie sei brillant und sehr nett. Sie gehört offenbar zu jenen, die es als berufliche Kompetenz betrachten, sich in der Zusammenarbeit wie ein normaler Mensch zu benehmen. Und ich habe Aufnahmen mit ihr angeschaut: Ich mag ihre dirigentische Sprache – die Lichter sind an, die ganze Zeit. Von daher freue ich mich sehr auf dieses Konzert. Wenn etwas schiefgehen sollte, wird es mein Fehler sein, das weiss ich jetzt schon.

Was ist Ihnen lieber bei einem ersten Zusammentreffen: Dass man zuerst redet? Oder gleich zu proben beginnt?

JM Wir machen auf jeden Fall zuerst eine Probe ohne Orchester. Wenn man sich gut kennt und ein Werk schon oft gemeinsam gemacht hat, ist das etwas anderes; aber bei einer ersten Zusammenarbeit oder bei neuen Werken ist es wichtig, dass man sich zunächst einmal verständigt. Ein paar grundsätzliche Dinge werden wir wohl schon vor der Probewoche besprechen: Wie wir das Stück sehen, ob es einen Temporahmen gibt, solche Fragen. Auch mit Bryce Dessner werde ich mich noch austauschen, wenn der Konzerttermin näher rückt.

PK Für mich ist ein Treffen vor der ersten Probe sehr wichtig, gerade, wenn das Repertoire neu ist. Bryce Dessners Violinkonzert ist sozusagen kammermusikalisch angelegt, und Kammermusik funktioniert besser, wenn man sich vorher schon einmal in die Augen geschaut hat. Wenn ich selbst dirigiere, was ich in letzter Zeit öfter tue, setze ich mich vorher ebenfalls mit den Solistinnen und Solisten zusammen, auch mit jenen, die ich bereits gut kenne. Manche mögen sagen, es sei ein Zeichen von Vertrauen, wenn man einfach in die Probe geht, Hallo sagt und dann anfängt. Aber ich halte nicht viel von dieser Art Vertrauen. Es schadet nie, wenn man spricht.

Sie geben erstmals ein Konzert in der Tonhalle am See: Noch ein Debüt.

JM An einem neuen Ort vertraut man sehr auf das Orchester, das die Akustik ja gut kennt. Ausserdem hört man natürlich Dinge über einen Saal oder spricht mit Kolleginnen und Kollegen, die schon dort waren. Ich mache es dann jeweils so, dass ich in der Probe das Orchester auch einfach mal spielen lasse und im Raum herumgehe – so bekomme ich schnell ein Gespür dafür, wie er klingt. Auch hier gilt: Man muss offen sein und sich im Moment einlassen auf die Impulse, die kommen.

PK Ja, in Zürich habe ich bisher nur in der Tonhalle Maag gespielt. Apropos, was ist aus diesem Saal geworden? Den gibt es nicht mehr? Sehr schade. Für Bryce Dessners Musik wäre das ein fantastischer Ort gewesen. Historische Säle sind wunderschön, aber sie drücken der Musik immer auch einen ästhetischen Stempel auf. In der Tonhalle Maag konnte die Musik sein, was sie ist. Für mich war das ein ideales Beispiel dafür, wie sich unsere Kunstform entwickeln könnte. Es gibt überall auf der Welt so viele leerstehende Industriegebäude. Wenn man bedenkt, dass neue Konzerthäuser für 500 Millionen Euro und mehr gebaut werden – dafür könnte man Dutzende von Sälen im Stil der Tonhalle Maag erstellen!

Joana Mallwitz

Einem breiten Publikum wurde Joana Mallwitz bekannt, als sie 2020 bei den Salzburger Festspielen Mozarts «Così fan tutte» dirigierte. Ihr musikalisches Zuhause war damals das Staatstheater Nürnberg, wo sie jene Expeditionskonzerte entwickelte, die auch online zum Erfolg wurden. Seit dieser Saison ist sie Chefdirigentin und künstlerische Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin.

Was haben Sie gedacht, als Sie die Partitur von Bryce Dessners Violinkonzert das erste Mal gesehen haben?

JM Was einen sofort anspringt bei diesem Werk: Die Solovioline spielt die ganze Zeit. Es geht weniger um einen Wechsel zwischen Solo-Landschaften und Orchester-Landschaften, es ist wirklich die Geige, die diese Reise bestimmt und vorantreibt. Im Stück geht es ja gewissermassen um eine Wanderung nach Santiago de Compostela, und das leuchtet sofort ein, wenn man die Partitur sieht. Für mich ist jedes Werk eine eigene Welt, die Partituren sind wie Landkarten, die ich ganz genau kennen muss, um an jedem Punkt zu wissen: Wie und in welcher Verfassung bin ich hierhergekommen, was liegt links und rechts von mir? In Mahlers Sinfonie Nr. 1, die wir ebenfalls spielen werden, kehrt man immer wieder an denselben Punkt zurück und erlebt ihn jedes Mal anders. Bei Dessner dagegen geht das Ganze in eine einzige Richtung: Vorwärts.

PK Bryce Dessner hat das Stück für mich geschrieben, 2021 habe ich in Frankfurt die Uraufführung gespielt. Ich wusste schon im Voraus so ungefähr, was mich erwarten könnte, denn ich hatte bereits Streichquartette von ihm aufgeführt. Da gibt es eines, «Aheym» – das ist wirklich Punkrock. In der Partitur des Violinkonzerts gab es dann schon Stellen, bei denen ich mich fragte, ob die spielbar sind. Aber Bryce Dessner war da bei den Proben, und seine Erklärungen haben geholfen, den richtigen Ansatz zu finden. Sagen wir es so: Einige der Instinkte, die wir für Mendelssohn brauchen, sind nicht hilfreich bei Dessner, und umgekehrt. Bei Dessner muss man mit dem breiten Pinsel malen, es geht eher um Gesten als um einzelne Töne. Normalerweise wärme ich mich vor Konzerten mit Etüden und Tonleitern auf. Bei diesem Werk tue ich es mit Liegestützen, das bringt mich in den richtigen Modus.

Das Tonhalle- Orchester Zürich wird Bryce Dessners Violinkonzert zum ersten Mal spielen. Was erwartet die Musikerinnen und Musiker?

JM Ich glaube, man muss bei dieser Musik in eine Art Flow kommen. Diese mal riesenhaften, mal kleinteiligen Landschaften ziehen in schnellem Tempo vorbei, all die rhythmischen Details passieren in der Bewegung. Das ganze Stück muss durchschwingen – wie bei einer guten Wanderung eben, bei der man die einzelnen Schritte vergisst. Bei Mahler ist es übrigens ein ähnliches Grundgefühl, dort ist es eher eine emotionale Reise. Aber bei beiden Werken wird es darum gehen, die Landkarten zusammen mit dem Orchester sehr gut zu studieren und dann im Konzert zu schauen, wo einen die Stücke an diesem Abend hintragen.

PK Das Stück ist Hardcore, sehr schwer zu spielen, für mich wie auch für das Orchester. Es macht aber auch enorm Spass. Das Ganze erinnert an einen Moshpit, einen jener kreisförmigen Battles, die man von Metal- oder Punk-Konzerten kennt: Die Leute rennen, stossen zusammen, werden auch mal heftig, aber das entspricht der Abmachung. So ist es auch hier: Man tut sich ein bisschen weh, aber innerhalb eines sicheren Rahmens.

Und was raten Sie dem Publikum, das dieses Werk zum ersten Mal hört?

JM Einfach mitlaufen mit der Geige und schauen, was passiert – ganz unverkopft. Man muss nichts wissen über diese Musik, sie packt einen vom ersten Ton an geradezu physisch; dem kann man sich gar nicht entziehen. Das ist das Schönste, wenn man merkt: Hier hat jemand ein Werk geschrieben, das ohne Erklärung jeden irgendwie berührt oder mitreisst.

PK Wenn ich das Stück bisher gespielt habe, hatte ich immer den Eindruck, dass das Publikum gepackt wird. Wenn man nicht fundamental gegen neue Musik ist, nimmt es einen mit auf eine Reise. Wenn man dagegen fundamental gegen neue Musik ist, kann ich auch nicht helfen, sondern nur daran erinnern, dass jede Musik einmal neu war. Wer gegen Dessner ist, wäre früher vielleicht gegen Beethoven, Schostakowitsch oder Strawinsky gewesen. So gesehen befindet sich jeder Komponist, der heute nicht verstanden wird, in sehr guter Gesellschaft.

Pekka Kuusisto

Der finnische Violinist Pekka Kuusisto ist ein ebenso eigenwilliger wie charismatischer Musiker. In der Tonhalle Maag elektrisierte er das Zürcher Publikum 2019 mit Jean Sibelius' «Humoresken» und finnischer Volksmusik. Zunehmend tritt er auch als Dirigent auf. Seit dieser Saison ist er Principal Guest Conductor und künstlerischer Co-Leiter beim Helsinki Philharmonic Orchestra.

Wenn wir von Debüts sprechen: Wie haben sich diese verändert seit dem Anfang Ihrer musikalischen Karriere?

JM In der ersten Zeit hatte ich kaum Begegnungen mit verschiedenen Orchestern oder Sälen. Ich habe ja in der Oper angefangen, mit 19 Jahren wurde ich Kapellmeisterin und Assistentin des Generalmusikdirektors in Heidelberg. Da ging es darum, das Handwerk zu lernen – machen, machen, machen. Das war nicht einfach, ich lernte ja immer vor Publikum. Aber bis sich dann jemand dafür interessierte, wo ich gerade debütiere, hatte ich schon zehn Jahre Erfahrung. Inzwischen habe ich das Glück, dass ich auf sehr hohem Niveau arbeiten kann, mit tollen Orchestern, mit tollen Solistinnen und Solisten. Da wird es immer unwahrscheinlicher, dass man unangenehme Erfahrungen macht. Aber es gibt umgekehrt Begegnungen, bei denen es wirklich klickt: Das sind die besonders schönen Momente.

PK Ich hatte zum Glück nicht viele schreckliche Zusammenstösse. Manchmal gab es Unstimmigkeiten, wenn ein erfahrener Maestro erwartete, dass ich einfach seine Sicht der Dinge übernehme. Einmal bin ich vor dem Konzert abgereist, weil ein Dirigent Hans Werner Henzes wunderbares 3. Violinkonzert Schrott fand; er hatte die Leitung nur übernommen, weil er in der zweiten Hälfte des Konzerts Bruckner dirigieren durfte. Ein anderes Mal hat mir ein Konzertmeister nach der Aufführung nicht einmal die Hand gegeben, weil er meine Mozart-Interpretation zu stachelig fand. Aber eben, das ist lange her. Inzwischen bin ich flexibler geworden, und die Welt hat sich verändert. Inwiefern? Nun, es ist nicht mehr allgemein akzeptiert, dass sich Genies schlecht benehmen dürfen. Und ich spiele viel öfter unter der Leitung von Menschen, die keine Männer sind. Ich bin schon fast so weit, eine Theorie aufzustellen, nach der es mit Dirigentinnen deutlich weniger Autoritäts-Dispute gibt.

Sie haben seit kurzem einen neuen Job. Was packen Sie dort zum ersten Mal an?

JM Ich bin seit dieser Saison Chefdirigentin beim Konzerthaus Berlin. Dieses war schon immer sehr offen für Neues – das passt zu mir. Was das Repertoire betrifft, schliesse ich überhaupt nichts aus und möchte einen Bogen von ganz alter bis zu zeitgenössischer Musik spannen. Unter anderem setzen wir in dieser Saison einen Schwerpunkt auf Kurt Weill; seine Sinfonien werden fast nie gespielt. Bei den Formaten habe ich in Berlin die Expeditionskonzerte eingeführt, die ich bereits früher gemacht habe: In diesen Konzerten bin ich mit dem ganzen Orchester und einem Klavier auf der Bühne und erzähle – nicht: erkläre! – einiges über ein bedeutendes Werk, am Ende wird es gespielt. Und neu haben wir uns die Night Sessions ausgedacht, mit stilistisch vielfältiger Musik und einem Gast aus einer ganz anderen Ecke. Im Mai werde ich zum Beispiel mit einer Sterneköchin über das Thema Inspiration sprechen.

PK Ich bin seit Anfang dieser Saison Principal Guest Conductor und Künstlerischer Co-Leiter beim Helsinki Philharmonic Orchestra. Da haben wir neu ein Labor-Projekt entworfen, auf das ich sehr gespannt bin: Eine Gruppe aus dem Orchester mit vielleicht zwanzig Leuten macht für drei Wochen etwas ganz anderes. Wir haben einen Choreografen engagiert, sie haben einen Raum zur Verfügung. Es geht nicht darum, eine Aufführung zu erarbeiten, sondern einfach darum, die Welt von einer anderen Seite her zu betrachten, zusammen mit den Kolleg*innen etwas zu kreieren. Wer weiss, vielleicht bringen sie etwas Neues mit, wenn sie ins Orchester zurückkommen.

Mögen Sie es, Dinge erstmals zu tun?

JM Man sagt immer, der Klassikbetrieb sei so beständig, aber ich erlebe das überhaupt nicht so. Ich könnte mein Leben mit Debüts verbringen, das Repertoire ist unerschöpflich. Gerade in der Position als Chefdirigentin ist jedes Programm neu, da wiederholt man sich ja nicht. So muss ich mich im Gegenteil aktiv darum bemühen, wichtige Werke regelmässig zu machen. Mahlers Sinfonie Nr. 1 etwa ist ein Herzensstück, das ich hoffentlich sehr oft dirigieren werde, an unterschiedlichen Orten. Es ist mit solchen Werken wie mit Menschen, denen man in verschiedenen Lebensphasen begegnet: Man lernt sie jedes Mal neu kennen.

PK Wir arbeiten nicht im Business der Künstlichen Intelligenz, sondern in einem, das über ziemlich lange Zeit gleichgeblieben ist. In der klassischen Musik kann es einem deshalb leicht passieren, dass man revolutionär wird. Es geht nur darum, sich auf das zu konzentrieren, was einem sehr wichtig ist. Und dann zu versuchen, mit dem Rest zu leben.

Juli 2024
Fr 05. Jul
19.30 Uhr

Joana Mallwitz mit Mahler

Tonhalle-Orchester Zürich, Joana Mallwitz Leitung, Pekka Kuusisto Violine Dessner, Mahler
Do 04. Jul
19.30 Uhr

Joana Mallwitz mit Mahler

Tonhalle-Orchester Zürich, Joana Mallwitz Leitung, Pekka Kuusisto Violine Dessner, Mahler
veröffentlicht: 24.06.2024

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