Ilona Schmiel (Foto: Gaëtan Bally)
Interview über das Zuhören

«Und dann entsteht aus der Stille Klang»

Zuhören ist nicht immer einfach – das gilt auch im Konzert. Für Ilona Schmiel, Intendantin der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, ist es gerade deshalb eine existenzielle Erfahrung.

Interview: Ulrike Thiele und Susanne Kübler

Ilona, wie hörst du Konzerte?

Ich versuche immer, mit offenen Ohren und offenem Herzen in ein Konzert zu gehen. Aber ich höre sehr unterschiedlich fokussiert. Das ist abhängig davon, wie der Tag vorher war, oder auch von der Temperatur im Saal.

Temperatur?

Es geht nicht um etwas, das man in Grad Celsius messen kann, sondern um ein Energielevel. Darum, wie der Saal sich verhält. Das hat nichts mit dem Applaus zu tun, es ist viel feinstofflicher. Man spürt jeweils sehr klar, ob ein Publikum bereit ist, etwas aufzunehmen, ob es inspiriert zuhört. Das hat übrigens auch enorme Auswirkungen auf die Aufführung: Ein positives Publikum sendet Energie auf die Bühne. Sodass dann auch eine andere Energie zurückkommt.

Hat sich diese Temperatur verändert im Laufe der Zeit?

Stichwort Digitalisierung. Ich finde nicht, dass die Aufmerksamkeit im Konzertsaal in den letzten Jahren abgenommen hat – auch wenn das oft behauptet wird. Aus meiner Sicht ist der Wunsch nach aufmerksamem Zuhören sogar gewachsen. Jene, die ins Konzert kommen, sind erst einmal froh, dass sie sich diesem Zuhören widmen können. Musik hören ist genau das Gegenteil von: alle zehn Sekunden eine Message bekommen und auch darauf sofort noch antworten.

Was ist denn das Besondere am Zuhören im Konzert?

Es ist eine Zeit der Selbstreflexion. Man erlebt es ja selten, dass man sich individuell in einer grossen Menschenmenge befindet und trotzdem kollektiv eine Erfahrung macht. Das Besondere ist, dass die Musik jeden Abend neu entsteht. Da ist dieser unglaubliche Moment der Stille, bevor es losgeht – eine Art heiliger Moment. Und dann entsteht aus dieser Stille Klang: Das ist für mich immer noch eines der grössten Phänomene. Ich bekomme auch jetzt wieder Gänsehaut, wenn ich darüber spreche. Es entwickelt sich etwas und es vergeht wieder.

Gibt es Menschen, für die Zuhören eine Herausforderung ist?

Natürlich. Wer sich tagsüber in ganz anderen Welten bewegt, hat vielleicht Mühe, abends im Konzert loszulassen. Manche wollen oder können sich nicht öffnen, manche sind vielleicht gar nicht in erster Linie wegen der Musik hier. Ich höre oft den Satz, Hören sei anstrengend. Ja, das ist es. Es befriedigt, es macht glücklich, aber es erschöpft einen auch. Wobei wir hier einen grossartigen Saal haben, der das Zuhören erleichtert: In der Tonhalle Zürich verbinden sich die klangliche Erfahrung mit einem physischen Erlebnis – man spürt die Vibrationen der Bässe.

In der Tonhalle gehen auch viele Kinder ein und aus, es gibt zahlreiche Anlässe für Schulklassen. Ist es ein pädagogischer Auftrag, ihnen das Zuhören zu vermitteln?

Nein. Pädagogik gehört in die Schule, und es ist wichtig, dass die Musik dort nicht vernachlässigt wird. Musik ist Herzensbildung, über sie kann man vieles vermitteln, was uns gesellschaftlich positiv auszeichnet; sie kann Brücken bauen über viele Grenzen hinweg. Und natürlich ist es wichtig, dass die Besuche bei uns gut vorbereitet werden, dass man im Vorfeld Wesentliches vermittelt und auch danach. Das tun auch Musikerinnen und Musiker von uns, die in die Schulklassen gehen. Aber wir sind keine Schule. Wenn die Kinder hier sind, dann sollen sie sich einfach faszinieren lassen. Sie sollen Menschen erleben, die mit totaler Leidenschaft Musik machen. Das kann auch eine Vorbildwirkung haben, bei mir war das jedenfalls so.

Wer war denn dein Vorbild?

Mein Grossvater. Er war ein sehr guter Geiger, konnte aber wegen einer Kriegsverletzung nicht mehr spielen. Vielleicht versuchte er, diesen Verlust mit mir zu kompensieren – jedenfalls hat er mir Zuhörmomente geschenkt, indem er mich in Konzerte und Opernaufführungen mitgenommen hat, seit ich vier Jahre alt war. Da war keine bestimmte Absicht dahinter, kein Gedanke, was später daraus werden könnte. Aber es war der entscheidende Anfang. Ich wollte dann zwar nicht Geige spielen, aber ich wollte Musik machen, mit Musik zu tun haben.

Man wirft dem klassischen Musikbetrieb immer wieder vor, nicht in der Gegenwart angekommen zu sein oder sich gar in fast schon biedermeierlicher Haltung von der Aktualität abzukapseln. Ist der Konzertsaal ein Rückzugsort in einer schwer erträglichen Welt?

Für mich hat das überhaupt nichts mit Rückzug zu tun. Ein Konzert ist proaktiv, es wirkt immer in die Zukunft hinein. Wenn man wirklich zuhört, ändert sich der Seelenzustand. Bei mir laufen parallel zur Musik innere Filme ab: Es kommen Bilder auf, ich werde in bestimmte Situationen versetzt, erlebe vielleicht frühere Situationen und Gefühle aufs Neue. Angst oder Trauer sind plötzlich ganz präsent: Das kann Musik auf einzigartige Weise bewirken. Es ist ja auch kein Zufall, dass in entscheidenden Momenten des Lebens selbst Menschen, die sonst keine klassische Musik hören, plötzlich in «diese Schublade» greifen.

In welchen Momenten zum Beispiel?

Bei Hochzeiten etwa, oder bei Beerdigungen. Mit einem Beethoven-Streichquartett lässt sich ein gesamtes Leben noch einmal erzählen. Da sind diese Reibungen, die tänzerischen, fröhlichen Momente, dann wieder ein Schatten – es ist unglaublich, was das auslösen kann. Das ist für viele eine intensive Erfahrung, Musik sagt mehr als alle Worte. Allerdings nur, wenn sie live gespielt wird: Wenn sie in solchen Situationen vom Band kommt, wie es heute oft üblich ist, ist das überhaupt nicht vergleichbar.

Als Intendantin sitzt du sehr oft im Konzert. Wird das nie zu viel?

Nein. Ich höre in einer Woche tatsächlich oft zwei oder sogar drei Mal das gleiche Programm – da sagen andere, um Gottes Willen, drei Mal das Gleiche! Aber ich finde das fantastisch, ich höre jedes Mal etwas Neues, steige jedes Mal tiefer in die Werke ein. Und es gibt ja auch im Orchester eine «Temperatur»: Man merkt sofort, wie die Musikerinnen und Musiker auf die Bühne kommen, in welcher Stimmung sie als Kollektiv sind. Ich bin überzeugt, dass man das auch ohne besonderes Hörtraining wahrnimmt. Auch darum ist es für mich interessant, ein Programm mehrfach zu hören. Am ersten Abend existiert vielleicht eine gewisse Spannung, später kommt eine Gelassenheit dazu, zuletzt Risikofreude im Sinn von: Jetzt wollen wir es noch einmal wissen.

Was hörst du gern ausser der Musik?

Stimmen. Sprachen. Das können Podcasts sein, ich höre auch immer noch viel Radio. Und ich bin unglaublich gern an Orten, an denen Menschen mit verschiedenen Sprachen zusammentreffen, an Flughäfen zum Beispiel. Diese unterschiedlichen Klangvorstellungen und Tonhöhen – die faszinieren mich.

Hörst du Sprache wie Musik? Oder ganz anders?

Bei Sprache versucht man ja sofort zu verstehen. Meine Offenheit ist bei Musik viel grösser als bei einem Text oder einem politischen Kommentar. Ich bin ein anderer Mensch und reagiere ganz anders, wenn ich Musik höre. Nach einem intensiven Konzerterlebnis kann diese Wirkung lange anhalten.

veröffentlicht: 26.03.2024

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