«Da wollen wir einen guten Eindruck hinterlassen»
Sönke Wortmanns «Das Wunder von Bern» (2003) ist ein Sportfilm vor dem Hintergrund der Fussballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz, aber auch ein bewegendes Familiendrama im westlichen Nachkriegsdeutschland.
In der Arbeitersiedlung in Essen-Katernberg sind viele Backsteingebäude noch ohne Fenster, die Strassen teilweise nicht gepflastert. Neun Jahre ist es her, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg verlor. Der Film «Das Wunder von Bern» beginnt im Ruhrgebiet, im Pott, wo der Ton rau ist und die Menschen das Herz am richtigen Fleck haben.
Für Christa Lubanski scheint es wie ein Wunder, als sie die Nachricht erhält, dass ihr Mann Richard noch lebt und nach elf Jahren aus der sowjetischen Gefangenschaft zu ihr und ihren drei gemeinsamen Kindern zurückkehren wird. Die beiden Ältesten sind schon erwachsen und der 11-jährige Matthias, «Mattes», kennt den Vater nur aus Erzählungen. Den Dreien steht bei der Verkündung die Frage ins Gesicht geschrieben: Wie wird das wohl werden mit dem Vater, den man kaum noch kennt?
Am Bahnhof kommt Richard traumatisiert, ausgemergelt und als gebrochener Mann an. Hier sehen sich Mattes und sein Vater zum ersten Mal. Die Familie zeigt Richard dann die Kneipe, mit der Christa und Tochter Ingrid das Einkommen der Familie in den letzten Jahren erfolgreich sicherten. Richard, der seinen Platz als Vater und Ernährer durch seine jahrelange Abwesenheit verlor, geht umher. Er betrachtet ein Foto an der Wand und will wissen: «Und wer ist dat?» Mattes’ Antwort: «Das ist der Boss, mein bester Freund.» Stolz erläutert Mattes seinem Vater dann seine Welt, in der Helmut Rahn die Hauptrolle spielt. Helmut Rahn ist ein junger Mann aus der Nachbarschaft, der vor Selbstbewusstsein nur so strotzt. Er ist Fussballer bei Rot-Weiss Essen und wird – was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt – in wenigen Wochen bundesdeutsche (Fussball-)Geschichte schreiben: Durch seinen Siegtreffer zum 3:2 im WM-Finale gegen Ungarn wird Deutschland 1954 Weltmeister.
Mattes ist sein grösster Fan und für Helmut Rahn eine Art Glücksbringer. In der Kneipe herrscht mittlerweile betretenes Schweigen und der ältere Sohn Bruno bringt es auf den schmerzlichen Punkt: «Er ist so eine Art Vaterfigur für ihn.» Spätestens jetzt wird Richard klar, dass sich seine Familie nach dem Krieg ganz gut ohne ihn arrangiert hat.
In «Das Wunder von Bern» erzählt Sönke Wortmann mit leichtem und witzigem Ton, aber auch mit bewegenden Szenen, wie Richard und sein Sohn Mattes über den Fussball zueinanderfinden und sich so neue Identitäten ergeben. Nicht nur für die beiden, sondern – neun Jahre nach Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs – für ein ganzes Land.
Die weisse Weste
Der Schauplatz für einen zweiten Erzählstrang ist Bayern, wo das deutsche Wirtschaftswunder im Gegensatz zum Ruhrgebiet schon mächtig brummt. Reihenhäuser mit Vorgärten, vor jedem parkt ein neues Auto, üppig schwingende Petticoats – Zeitkolorit vom Feinsten. In der Redaktion der «Süddeutschen Zeitung» sucht man einen Mann «mit weisser Weste», den man für die Berichterstattung über die Fussballweltmeisterschaft nach «da unten», in die Schweiz, entsenden kann. Paul Ackermann ist ein junger, ambitionierter und politisch unbelasteter Journalist, der seine Chance packt.
So richtig schön bunt und pittoresk werden die Bilder am dritten Schauplatz, wenn die deutsche Fussballnationalmannschaft das Hotel in Spiez erreicht. Nationaltrainer Sepp Herberger (dargestellt von Peter Franke) gibt in breitem und wenig weltmännisch klingendem Pfälzer Dialekt beim Training die Devise aus: «Wir spielen in der Schweiz. Da wollen wir einen guten Eindruck hinterlassen. » Der Mannschaft gelingt es im Laufe des Turniers, nicht nur sportlich durchzuhalten, sie schafft es auf wundersame Weise und dank der neuartigen Stollenschuhe bis ins Endspiel. Emotionalisiert wird dieser unerwartete Aufstieg der Mannschaft auch durch die Filmmusik von Marcel Barsotti, die zudem die drei Erzählstränge umklammert. (Der Schweizer Filmmusikkomponist und Sönke Wortmann arbeiteten dann für den Kino-Dokumentarfilm «Deutschland. Ein Sommermärchen», der die deutsche Nationalmannschaft bei der Fussballweltmeisterschaft 2006 filmisch begleitete, erneut erfolgreich zusammen).
Fussball und Politik
Der Journalist Paul Ackermann sieht sich für die Berichterstattung aus der Schweiz gezwungen, seine quirlige Ehefrau Annette mitzunehmen. Auch sie ist völlig aus dem Häuschen darüber, dass Deutschland im Wankdorf-Stadion in Bern im Endspiel steht. Das junge Paar diskutiert neben der Spielentwicklung auch noch ein weiteres grosses Thema: die Namen der zukünftigen gemeinsamen Kinder. Es steht 2:0 für den Favoriten Ungarn und zwischen dem Paar kommt es zur Wette. Paul findet, wenn Deutschland verliert und sie einen Jungen bekommen, «wird er Rüdiger heissen, wenn es ein Mädchen wird, Roswitha.» Annette ist entsetzt, springt auf und brüllt aus vollem Halse: «Deutschland vor, Deutschland vor!»
Emotionalisiert werden die sportlichen, politischen und persönlichen Geschichten in «Das Wunder von Bern» durch die Filmmusik des Schweizer Komponisten Marcel Barsotti.
Daraus entwickelt sich im Stadion ein Sprechchor, der die Ungarn einschüchtert. Diese Szene ist nicht nur ein komischer Filmmoment, sondern hier klingt auch eines der zentralen Themen des Films an: Das Ende des Nazi-Regimes liegt noch keine zehn Jahre zurück. Deutschlands Ruf in der Welt Mitte der 1950er-Jahre ist am Boden. «Deutschland vor» und das damit wiedererwachende Selbstbewusstsein wirkt verstörend. Ausgestrahlt wurde das damalige Endspiel im Fernsehen, es war das erste Sportereignis überhaupt, das in mehreren Ländern live übertragen wurde. Der Gewinn der WM war für die junge Bundesrepublik zweifellos von weitreichender politischer Bedeutung, auch wenn sich der damalige Bundespräsident Theodor Heuss öffentlich ausdrücklich gegen die Politisierung des Sportereignisses äusserte.
Louis und Gerhard
Dass Sport und Politik Berührungspunkte haben, bekam auch Louis Klamroth mit, der neben seinem realen Vater Peter Lohmeyer den Filmsohn Mattes verkörperte. Der heutige Mittdreissiger erzählte in Talkshows, wie er als Kind bei einer Veranstaltung rund um den Film «Das Wunder von Bern» neben dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder sass. Wegen der emotionalen Geschichte übermannten den siebten Kanzler der BRD die Emotionen und Louis Klamroth war mit sich selbst im Zwist darüber, ob er Gerhard Schröder nun das Knie tätscheln und ihn trösten müsse. Heute hat Louis Klamroth diesen inneren Konflikt wahrscheinlich für sich geklärt. Er ist mittlerweile ein preisgekrönter Politikjournalist, der im deutschen Fernsehen zur besten Sendezeit in der Talksendung «Hart aber fair» bekannten Politgrössen auf den Zahn fühlt.
Und Deutschland und der Fussball? Es folgten nach 1954 noch drei weitere Weltmeistertitel – 1974, 1990 und 2014. Danach sank die Erfolgskurve für die deutsche Nationalmannschaft, sie kommt nicht recht aus dem Formtief. Der Sommer 2024 wird zeigen, was die Europameisterschaft im eigenen Land bringt. Schon jetzt und für immer ist aber klar: «Der Ball ist rund und das Spiel dauert 90 Minuten.» Und wer «Das Wunder von Bern» gesehen hat, der weiss, dass diese Fussballweisheit von Sepp Herberger ihren Ursprung im Mannschaftshotel in Spiez gehabt haben könnte.