Der Allrounder
Grenzen? Nein, die interessieren den Briten Wayne Marshall nicht. Er wechselt vom Klavier an die Orgel, vom Interpretieren zum Improvisieren – und dann dirigiert und komponiert er auch noch.
Bach, Händel, Mozart, Bruckner, Reger: In der Vergangenheit gab es immer wieder grosse dirigierende und komponierende Organisten. Heute ist Wayne Marshall auf ihren Spuren unterwegs; als Multitalent knüpft er mit seinen genreübergreifenden Programmen an die Tradition an und befördert sie ins 21. Jahrhundert.
Virtuoser Instrumentalist
Wayne Marshall wurde am 13. Januar 1961 in Oldham (nahe Manchester) geboren. Seine Familie war sehr musikalisch. Bereits mit drei Jahren begann er, die Musik, die er in der Kirche kennenlernte, nach dem Gehör nachzuspielen. Noch bemerkenswerter ist, dass er anfing, über sie zu improvisieren und eigene Kompositionen zu schaffen.
Mit acht Jahren hörte er dann ein Werk, das ihm zur Offenbarung wurde: George Gershwins «Rhapsody in Blue». Fasziniert von den Klängen, Farben und Rhythmen der Komposition überredete er seine Eltern, ihm die Partitur und eine Aufnahme zu besorgen: «Ich hörte sie mir stundenlang an und war wie besessen von dieser Klangwelt. Das führte dazu, dass ich das Klavierkonzert in F und andere Werke entdeckte. Das Gleiche gilt für Leonard Bernstein. Es war einfach erstaunlich, diese Musik zu hören. Diese beiden Komponisten fügten meinem musikalischen Wissen eine sehr interessante Grundlage hinzu.» Die Begeisterung hält an: Heute ist Wayne Marshall ein Experte für die Interpretationen der Werke von Gershwin, Bernstein und anderen amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts.
«Einfach nur ein Organist zu sein, wäre das Schlimmste. Das würde ich hassen. Musik ist eine Sprache, und sie hat ein riesiges Wörterbuch, Jazz oder Barock oder was auch immer, und all das trägt dazu bei, wie man spielt.»
Ob als Solist am Klavier oder als Organist der Bridgewater Hall in Manchester, wo er seit 1996 Organist in Residence ist: Wenn er hinter den Tasten sitzt, kennt er keine Grenzen. Neben der klassischen Literatur für Klavier und Orgel sowie der amerikanischen E-Musik greift er immer wieder aktuelle Film- oder Game-Soundtracks auf. Zudem hat sich Wayne Marshall einen Ruf als fantasievoller Improvisator erworben – und kann sich dabei musikalisch voll ausleben: «Dieses Spielerische, Instinktive ist mir wichtig. In jedem Programm, das ich spiele, gibt es auch Improvisationen. Es gibt mir die Gelegenheit, ich selbst zu sein.»
Charismatischer Dirigent
Die Energie, die Wayne Marshall als Instrumentalist ausstrahlt, ist auch das Markenzeichen seines hüftschwungfreudigen Dirigats. Die Mischung von Kirchenmusik über Bach bis hin zu Jazz, Broadway und Hip-Hop findet sich in den Programmen wieder, die unter seiner Leitung erklingen. Die Entscheidung, nicht nur eine Karriere als Konzert- und Kirchenorganist anzustreben, sondern sich zusätzlich dem Dirigieren zu widmen, geht wiederum auf einen seiner künstlerischen Fixsterne, nämlich George Gershwin, zurück: Als Wayne Marshall bei der Opernakademie 1986 in Glyndebourne unter Sir Simon Rattle die Rolle des Jasbo Brown in der Oper «Porgy and Bess» übernahm, wurde seine Faszination für das Dirigieren geweckt.
«Eines meiner Ziele ist es, ein Orchester dazu zu bringen, eine Sinfonie zu improvisieren, aber die Musiker*innen müssen dabei vergessen, dass sie einen Fehler machen könnten. In der Improvisation gibt es keine Fehler. Was ist eine falsche Note in der Improvisation? Es gibt keine.»
Wayne Marshall leitet die Orchester oft à la Mozart vom Klavier aus. Und stets ist sein Dirigat von seiner Tätigkeit als Interpret beeinflusst: «Ich begann damit, nach dem Gehör zu spielen, und in vielerlei Hinsicht betrachte ich Musik immer noch auf diese Weise. Natürlich lese ich Musik, aber das Ohr sagt uns, worum es geht. Viele Musiker*innen haben heute nicht mehr die Möglichkeit, einfach nur ihr Instrument zu spielen. Als Dirigent ist es immer eine Herausforderung, ein Orchester dazu zu bringen, über das hinauszuschauen, was es vor sich sieht. Ich rufe immer wieder: ‹Lest es nicht, fühlt es!›»
Innovativer Orgelkomponist
Es überrascht nicht, dass Organisten seit jeher den grössten Teil der Werke für ihr Instrument liefern – so auch Wayne Marshall: Mit seinem «Magnificat and Nunc Dimittis in C» und seiner «Berceuse pour une femme» hat er beachtliche Beiträge zu seinem eigenen Repertoire geleistet. Doch er betont: «Im Wesentlichen bin ich ein Improvisationstier, und wenn mich ein Stück nicht direkt anspricht, bleibe ich lieber bei meiner eigenen Erfindung.» Wir dürfen also gespannt sein, was uns das Allroundtalent im Dezember 2023 bietet, wenn es unter Paavo Järvi auftritt.