Das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet das Dvořák Prague Festival. © Petra Hajska, Dvořák Prague Festival
Tournee-Blog

Das Tonhalle-Orchester Zürich auf Europa-Tournee

Vom 30. August bis 8. September 2023 war das Orchester zusammen mit Paavo Järvi auf Tournee.

Vier renommierte Festivals standen auf dem Tournee-Plan: die BBC Proms, das Beethovenfest in Bonn, das George Enescu Festival in Bukarest und das Dvořák Prague International Music Festival.

In diesem Tournee-Blog erzählen wir Ihnen, was wir in den Konzerten und sonst so erlebt haben:

Tournee-Blog

Mittwoch, 30. August

Erste Station: London, Royal Albert Hall, BBC Proms. Aber was sind eigentlich diese Proms? Die Antwort liefert unser erster Blog-Beitrag von Michaela Braun.

«Come as you are» – die BBC Proms

Sie möchten liegen im Konzert? Dann auf zu den BBC Proms nach London! Hier ist man nicht so heikel mit dem «Sehen und Gesehen werden». Man kleidet sich ungezwungen, denn die Idee bei der Gründung 1895 war, möglichst vielen Menschen den Genuss «ernster Musik» zu ermöglichen. Die Konzerte dauerten damals über drei Stunden.

Die Musik zugänglich zu machen steht auch noch heute im Vordergrund. Diesen Zugang nützen vor allem die «Prommers» – die Promenadenbesucher, denn dafür steht die Abkürzung Proms (Promenadenkonzerte). 2'500 Steh- respektive eben Liegeplätze stehen in der Arena und der Galerie (mit insgesamt 8'400 Plätzen) für 8 Pfund zur Verfügung; sie gehen in der Regel einen Tag vor den Konzerten online in den Verkauf. Wer dann keine Karte ergattert hat, kann zum Beispiel unser Konzert live auf BBC Radio 3 um 19.30 Uhr (BST) mithören. Alles wird hier seit der Übernahme durch die BBC 1927 live gesendet oder aufgezeichnet. Ein Archiv, in dem man gerne stöbert.

Wir befinden uns in guter Gesellschaft in der Reihe «classical for starters» – als Prom Nr. 59 der diesjährigen Ausgabe. Wir selbst sind aber keine «Starter» respektive Neulinge. Das Orchester gastiert zum sechsten Mal (2003, 2005, 2009, 2011, 2014, 2023) bei den Proms, Paavo Järvi gar zum zehnten Mal, ein Jubiläum also.

Von der Queen's Hall zur Royal Albert Hall

Die BBC konnte 1939, kurz nach Kriegsbeginn, die Proms in der Queen's Hall nicht mehr unterstützen. Henry Wood, einer der Gründer der Proms und ihr erster Dirigent, fand genügend Sponsoren für die Jahre 1940 und 1941. 1941 wurde die Queen's Hall durch einen Bombenangriff zerstört, und die einzige Alternative war die 1871 eröffnete Royal Albert Hall. Die BBC übernahm dann 1942 wieder die Schirmherrschaft. Seit der Gründung wurde das Festival jedes Jahr durchgeführt. Auch 2020, während der Pandemie – reduziert auf 14 Konzerte vor leerem Saal.

In den 1950er-Jahren nahmen erstmalig verschiedene englische Orchester an den Proms teil (davor waren es das BBC Orchestra und das London Symphony Orchestra) und ab den 1960er-Jahren dann auch internationale Orchester.

Geschichten wurden hier geschrieben

Die Geschichte des Festivals ist lange und vielseitig. Von den hunderten von Konzerten kann viel berichtet werden. Zwei waren besonders denkwürdig.

Am 21. August 1968 spielte der russische Cellist Mstislav Rostropovich das Cellokonzert von Dvořák – in der Nacht davor war die Sowjetunion in die Tschechoslowakei einmarschiert. Dieser Abend war seit Monaten geplant, nun wurde er aber von der Aktualität eingeholt. Zwischenrufe im Publikum begannen, als das Staatliche Symphonieorchester der Sowjetunion bereits die Bühne betrat. «Geht nach Hause!», rief jemand, oder «Russen raus!». Die Wahl des Cellokonzertes erschien dem Publikum an diesem Abend wie eine Beleidigung. Rostropovichs Spiel war emotional, voller Wut und Traurigkeit über die Geschehnisse in Prag (die Stadt, in der er seine Frau kennenlernte). Es heisst, er habe geweint während des Spiels, und er erinnerte sich später daran, dass er sich dabei die Menschen vorstellte, die getötet wurden. Am Ende hielt er die Partitur in einer Geste der Solidarität hoch. Das Publikum konnte dennoch nicht bekehrt werden.

Ebenfalls bei den Proms gab es 1912 eine bemerkenswerte Uraufführung – jene von Arnold Schönbergs 5 Orchesterstücken. Das Publikum wurde vorab gewarnt, dass die Werke etwas schwierig anzuhören wären. Aber das nützte wenig, denn die «Daily Mail» schrieb nach dem Konzert: «Die futuristische Musik wurde mit anständig unterdrücktem Gelächter aufgenommen»; ein schwacher Versuch, zu applaudieren, löste ein empörtes Zischen aus. Es war das erste Mal, dass ein Werk mit einer solchen Resonanz bedacht wurde. Was war denn so falsch daran? Die Musikkritiker äusserten sich dazu: Nichts. Die Musik war «einfach zu kompliziert, als dass der Durchschnittsmensch sie hätte begreifen können», so die «Times»; es sei «wie ein Gedicht auf Tibetisch: keine einzige Seele im Raum hätte es beim ersten Hören verstehen können». Der «Telegraph» schrieb: «Arnold Schönberg ist seiner Zeit eindeutig voraus», und fügte hinzu, dass dies keine Beleidigung sei; die Eltern der meisten Leser hätten dasselbe über Wagner gesagt.

Fast 130 Jahre nach ihrer Gründung sind die BBC Proms immer noch ein Garant dafür, dass die musikalische Bandbreite auf höchstem Niveau einem grossen Publikum zugänglich gemacht wird. Die «Prommers» in der Arena sind das zentrale Element, und die ungezwungene Atmosphäre wünschen sich wohl viele Konzerthäuser auf der Welt ebenfalls. Heute Mittwoch treten das Orchester und Paavo Järvi hier auf: Wir werden berichten, wie es ihnen dabei erging.

Donnerstag, 31. August

Das erste Konzert der Tournee bei den ausverkauften BBC Proms ist vorbei. Wie es war, auf und neben der Bühne, erzählt die Bratschistin Ursula Sarnthein.

There is nothing like the Proms

Bei den BBC-Proms aufzutreten, ist für mich einzigartig. Jedes Prom-Konzert, das ich erlebt habe, ist ein Glanzpunkt in meiner Erinnerung, von meinem ersten Prom 1997 im Gustav Mahler Jugendorchester unter Pierre Boulez bis zum letzten 2014 mit David Zinman.

Warum? Da ist zuallererst dieser gewaltige Saal. Nirgendwo sonst spielen wir vor so viel Publikum, mehr als 5000 Menschen, die zuhören. Der Blick von der Bühne hinauf in die Ränge ist atemberaubend. Erstaunlich, dass sie von dort oben etwas sehen können. Und hören … Es ist aber nicht nur der Saal, sondern auch die einzigartige Stimmung im Publikum. Aber fangen wir beim Frühstück an.

Frühstücksgespräche

Heute Morgen beim Frühstück im Hotel sitze ich zufällig mit Martin Frutiger, unserem Englischhornisten, am Tisch. Ich frage ihn, wie es für ihn ist, das berühmte Solo aus der 9. Dvořák hier zu spielen. Nicht viel anders als anderswo, meint er. Es ist überall eine aufregende Sache: Er erklärt mir, dass das richtige Doppelrohrblatt für ihn der Schlüssel zum Erfolg ist. Er hat sehr, sehr viele im Gepäck – nun muss er schauen, welches am besten zu den klimatischen und klanglichen Bedingungen der Royal Albert Hall passt. Er hofft, das Solo in der Anspielprobe ausprobieren zu können, denn nur zusammen mit dem begleitenden Orchester weiss er, ob es wirklich so klingt, wie er sich das vorstellt. «Es ist immer ein fantastischer Moment, wenn das Orchester am Anfang des zweiten Satzes seinen Klangteppich zaubert und ich meinen Klang und diese wunderschöne Melodie darauf legen kann. Wenn ich das Solo alleine übe, fühlt es sich manchmal schwierig an, aber auf der Bühne ist das immer wie weggeblasen, und jedes Mal magisch.»

Mit am Frühstückstisch sitzen die Orchestertechniker (OT) Friedemann Dürrschnabel und Matthias Lehmann. Für sie ist es herausfordernd, dass die Bühne so gross ist – fast ein Luxusproblem, meistens ist eher zu wenig Platz …
In der Royal Albert Hall sind unsere OTs immer bestens betreut, ständig ist ein Mitarbeiter an ihrer Seite, der ihnen dabei hilft, ihre aufwändige Aufgabe mit möglichst wenig Stress zu bewältigen: alle Instrumenten-Container in die richtigen Hinterbühnen-Räume bringen, Stühle, Notenständer und Noten aufstellen, die grossen Instrumente auf die Bühne bringen.
Der OT-Tag beginnt mindestens zwei Stunden vor unserer Probe, und endet lange nach dem Konzert. Erst wenn der letzte Container wieder im Lastwagen ist, können auch sie auf das gelungene Konzert anstossen. (Mehr dazu im Interview)

Bull's Run

Kurz vor 15 Uhr gehe ich mit ein paar Kolleginnen und Kollegen die grosszügige Freitreppe mit dem schönen Namen «Queen Elizabeth II Diamond Jubilee Steps» zur imposanten Albert Hall hinauf, hinein durch Tür 11, wo wir am Künstlereingang unsere persönlichen Zugangsbadges ausgehändigt bekommen – sogar mit Foto!
Container finden, Instrument holen, Bühneneingang finden und zur Bühne gehen. Soweit normales Tournee-Prozedere. Der Gang von der Hinterbühne aufs Podium hat auch einen Namen, er ist kurz und prägnant: «Bull's Run».
Mein Blick geht erstmal durch den Saal, hinauf in die Ränge – einfach umwerfend! – bevor er sich dem Notenpult zuwendet, auf dem noch ein paar haarige Passagen durchgefingert werden müssen ...

Die Probe ist ausführlich, zwei Stunden Zeit haben wir, um uns an die Akustik zu gewöhnen. Beethovens Ouvertüre «Die Weihe des Hauses» beginnt mit zwei einzelnen, lauten Akkorden, dazwischen eine längere Pause. Wir ballern den ersten Akkord in den Saal – postwendend fliegt er uns als Echo um die Ohren. Andererseits spürt man wenig Raumklang, weil der Saal so gross ist – fast so, als würde man im Freien spielen. Es hilft, sich beim Spielen um einen besonders warmen Klang zu bemühen.

Nach der Probe tanken wir vor der Royal Albert Hall die letzten Sonnenstrahlen und beobachten die «Prommers» in ihrer langen Schlange – das sind die Zuhörer auf den Stehplätzen in der Arena unten und auf der Galerie oben, die am Konzerttag selber auf diese Weise ein sehr günstiges Ticket bekommen.

Dreimal Zauberei

19.28 Uhr «Members of the Tonhalle-Orchestra – this is your two-minute cue. Please come to the stage.» tönt es aus dem Lautsprecher. Prom 59 beginnt, und es wird dreifach gezaubert. Wir zaubern, hochkonzentriert spielen wir zusammen, als wäre es Kammermusik, alle Antennen ausgefahren. Paavo zaubert auch – wie so oft gibt es musikalische Überraschungen, die wir hellwach aufnehmen und mit Freude umsetzen. Und noch einer zaubert: Augustin Hadelich spielt Tschaikowskys Violinkonzert mit Wahrhaftigkeit, tiefem Ausdruck und spielerischer Leichtigkeit.

Nach Tschaikowsky hören wir zum ersten Mal das rhythmische Stampfen aus der Arena: Eine Zugabe wird verlangt und Augustin Hadelich spielt Bluegrass! In Bombenstimmung gehen Publikum und Orchester in die Pause.
Nachher die Sinfonie aus der Neuen Welt – Martins Englischhorn-Solo ein Traum, und wir lassen uns von dem vertrauten Stück mitreissen. An den leisen Stellen staune ich, wie still und gebannt die 5000 Menschen im Saal zuhören, bis sie beim Applaus wieder in lautes Jubeln und Stampfen ausbrechen. Im Applaus meint der Cellist neben mir: «Ist schon ein echt toller Beruf, den wir haben.» Das Publikum bekommt seine Zugabe, ein mitreissendes, virtuoses skandinavisches Stück von Hugo Alfvén – das Publikum ahnt nicht, dass die ersten Geigen dabei ganz schön schwitzen, weil es so schnell und virtuos zu spielen ist. Auch das gelingt – und Prom 59 ist Geschichte.

PS: Nach dem Konzert ins Pub – ein Muss. In guter Gesellschaft, mit Kolleg*innen, englischen Freunden – und auch hier am Tisch frisch kennengelernten Prom-Zuhörern – stossen wir auf alles an, was diesen Abend so besonders gemacht hat.

Ursula Sarnthein im blauen Bühnenlicht kurz vor dem Konzert in der Royal Albert Hall. #nofilter

Freitag, 1. September

Inzwischen ist das Orchester nach Bonn weitergereist. Am Beethovenfest wird es zwei Konzerte spielen. Michaela Braun hat sich hier schon einmal umgeschaut und umgehört.

Einmal Beethoven, immer Beethoven

25 Tage, 70 Konzerte, 33 Spielorte, 20'000 von 27'000 Billetten sind bereits verkauft: Das Beethovenfest in Bonn ist ein bedeutendes Festival, und wir haben heute die Ehre, es zu eröffnen. «Musik über Leben» ist das Thema dieser Ausgabe. Die Nachhaltigkeit unserer Lebensform steht im Zentrum. Wie dürfen wir das genau verstehen, frage ich den Intendanten Steven Walter.

«Wir möchten als Beethovenfest Themen aufgreifen, die eine Relevanz für alle Menschen haben», sagt Walter. »Das Thema der Nachhaltigkeit ist daher ein Naheliegendes – in Zeiten von Klimakrise, Klimaprotesten und Wetterphänomenen. Uns interessiert, wie die Musik sich dem Thema annimmt, wie sie sich mit dem ‹Leben› auseinandersetzt. So hat Beethoven sein Naturerleben sehr anschaulich in Werken wie der ‹Pastorale› vertont. Wir möchten aber auch wissen, was über das Leben hinausgeht, was uns in der Zukunft erwartet, was nach dem Tod kommt (denn kein Leben ohne Tod). Unser Motto ‹Musik über Leben› soll die Vielschichtigkeit dieses Lebens, unseres Lebens, verdeutlichen und ist zugleich die Grundlage, auf der wir in über 70 Konzerten Künstler*innen, Komponist*innen und Besucher*innen befragen und mit ihnen in den Austausch kommen. »

Das Beethovenfest wurde 1845 von Franz Liszt gegründet; er machte sich damals wohl Sorgen, dass Beethovens Erbe in Vergessenheit geraten könnte, dass der Mythos Beethoven, dessen Beerdigung 1827 rund 20'000 Menschen angelockt hatte, verblassen würde – so wie es vielen Komponisten erging. Das Festival in Beethovens Geburtsstadt Bonn sollte sein Leben und Werk feiern. Es ist damit eines der ältesten Klassikfestivals in Deutschland.

Von 1949 bis 1990 war Bonn die Hauptstadt Westdeutschlands, das Zentrum des Landes. Inzwischen spielt die Politik in Berlin, aber der kulturelle Fokus und somit der Fokus auf Beethoven ist geblieben. Und das nicht nur in Bonn: Es gibt zahlreiche Beethoven-Strassen und -Plätze weltweit (auch die Tonhalle Zürich grenzt an eine Beethovenstrasse), und eine unüberschaubare Anzahl an Einspielungen; wer sich auf Google tummeln möchte, erhält beim Begriff «Beethoven» 115 Mio. Ergebnisse. In der Deutschen Nationalbibliothek gibt es an die 40'000 Buch- und Aufsatztitel zu ihm. Auf Youtube kann man sich tagelang mit Videos zu ihm beschäftigen, an die 3,7 Mio stehen zur Verfügung. Amazon kann über 30'000 verschiedene CDs und Schallplatten anbieten sowie über 10'000 Bücher mit Beethoven-Bezug. Die Qual der Wahl ...

Liszts Sorge war also unbegründet. Und wir freuen uns, heute und morgen hier in Bonn zu spielen!

Franz Liszt begründete am 14. August 1845 die Bonner Beethovenstrasse. (Foto: Bürger für Beethoven)

Samstag, 2. September

Was ist zwischen London und Bonn passiert? Und wie war das Eröffnungskonzert des Beethovenfests für das Orchester? Die Bratschistin Ursula Sarnthein hat dazu einiges zu erzählen.

Reisen ist Risiko

Donnerstag: London → Bonn. An so einem grossen Flughafen wie Heathrow kann es schon mal vorkommen, dass gleich zwei Sinfonie-Orchester auf ihren Flug warten! Antonia Siegers-Reid identifizierte begeistert das London Philharmonic Orchestra, ihr ehemaliges Orchester, und freute sich über das unverhoffte Wiedersehen mit alten Freundinnen und Freunden.

Das LPO war seit 6.30 Uhr am Flughafen und auf dem Weg nach Wiesbaden. Sie sollten am gleichen Abend dort ein Konzert spielen. Ihr Flug war ausgefallen, es war nun bereits 14 Uhr und damit unwahrscheinlich, dass sie es noch rechtzeitig zum Konzert nach Wiesbaden schaffen würden – ein absoluter Alptraum auf einer Tournee, für das Orchester und auch die Organisatoren!

Unser Flieger hob zum Glück pünktlich Richtung Bonn ab.

Bönnsch

Bonn liegt wie mein Geburtsort Düren im Rheinland. Der Dialekt, der in Bonn gesprochen wird, heisst Bönnsch, ähnelt dem Kölsch und klingt sehr heimatlich in meinen Ohren. Der Orchestertechniker Uli Acolas ist auch «von hier», und so geben wir einigen Kolleginnen und Kollegen im Bus eine Kostprobe davon, wie man hier «schprischt»: Das beste Beispielwort ist Flugzeugträger – der Rheinländer sagt «Fluchzeuschträjer» – man bemerke die drei verschiedenen Arten, das G auszusprechen ...

Übrigens – Beethoven hat auch so gesprochen wie wir!

Und das LPO?

Sie erreichten ihr Hotel in Wiesbaden erst um 22 Uhr – das Konzert musste ausfallen.

Frankenstein und farbige Türen

In Bonn spielen wir in der Oper – hier gestaltet es sich deutlich komplizierter als bisher, alles zu finden. Es gibt kaum Wegweiser, dafür scheinbar unendlich viele Gänge und farbige Türen. Der Weg von den Kleidercontainern zur Damengarderobe, die interessanterweise mit «Frankenstein – Damenensemble» beschriftet ist, ist so lang, dass man sich unterwegs x Mal verläuft. Manchmal begegnet einem ein netter junger Mann vom Beethoven-Festival, der dazu da ist, uns den Weg zu weisen. Aber er kann halt nicht überall gleichzeitig stehen!

In so einem Opernhaus steht hinter der Bühne viel herum, und dazu kommen jetzt noch unsere unzähligen Container. Zum Auspacken der Instrumenten-Kästen arrangieren wir uns mit dem Platz, den wir finden: zum Beispiel auf einem Hebelift oder auch auf herumstehenden, fahrbaren Podesten. Aus einem unerfindlichen Grund bewegte jemand das Podest, auf dem ein Bratschenkasten lag, so dass dessen Besitzerin kurz vor dem Konzert verzweifelt den neuen Aufenthaltsort ihrer Bratsche suchte …

Wir nehmen solche Situationen immer mit Humor – es war ziemlich lustig hinter der Bühne heute Abend. Weiter unten gibts einen kleinen visuellen Eindruck.

Und das Konzert?

Es wurde auf Youtube live gestreamt und ist unter diesem Link noch abrufbar. Hören und schauen Sie mal rein!
Besonders bemerkenswert fand ich die Zugabe, die Anastasia Kobekina nach Dvořáks Cellokonzert zusammen mit unserem Schlagzeuger Klaus Schwärzler am Tamburin spielte!

Martin Frutiger und Haika Lübcke hinter der Bühne. (Foto: Ursula Sarnthein)
So sah es backstage aus. (Foto: Ursula Sarnthein)
Das Eröffnungskonzert in der ausverkauften Oper Bonn. (Foto: Daniel Dittus)
Anastasia Kobekina spielt Dvořáks Cellokonzert unter der Leitung von Paavo Järvi. (Foto: Daniel Dittus)
Zugabe von Anastasia Kobekina mit unserem Schlagzeuger Klaus Schwärzler am Tamburin. (Foto: Daniel Dittus)

Sonntag, 3. September

Inzwischen ist das Orchester in Rumänien eingetroffen. Für Josef Gaszi und Ioana Geangalau-Donoukaras heisst das: Sie sind zu Hause. Michaela Braun hat mit ihnen gesprochen.

Heidi hat den Weg vorgegeben

Eigentlich war es eine ganz normale Tournee 1995, aber es wurde der ganz normale Wahnsinn. Musiker trifft auf Jus-Studentin, die in der Freizeit Chorsängerin ist, sieht sie im Konzert im Chor, will sie heiraten – und zwar sofort. Nach einigen Briefen und einem Besuch in seiner Heimat ist für den Geiger Josef Gaszi klar, diese Frau aus Bern wird seine Frau werden, und anstatt wie geplant in die USA zu ziehen, zieht er halt nach Bern. Aus Kindheitstagen war ihm der Film «Heidi» vertraut, und er sagte seiner Mutter schon damals, da will ich mal leben. Die Berner Familie war etwas erstaunt über die Auswahl der Tochter, aber diese war nach drei Monaten in Siebenbürgen, wo sie ungarisch lernte, überzeugt, dass auch er der Richtige war. Er konnte die Schwiegerfamilie mit seinem Charme beim Gegenbesuch dann auch überzeugen.

Deutsch hatte er schon in der Schule gelernt, aber Berndütsch war dann doch noch eine andere Nummer. Irgendwann kam Zürich ins Spiel, der Geiger liess sich an der Musikhochschule ausbilden, absolvierte das Konzertdiplom und trat mit dem Konsi-Orchester schon in der Tonhalle auf. Hier permanent zu spielen war sein Traum. Er wurde Realität.

Nun kommt er auf Tournee zurück in die Heimat, von der er natürlich einiges vermisst – nicht zuletzt die Suppenkultur Rumäniens. Die ist unerreichbar für ihn im Ausland. Auch sonst kommt er gerne heim, mit seinen Zwillingen, die das Land lieben, und natürlich mit seiner Frau. Die Familiensprache ist ungarisch. Josef Gazsi bedauert, dass Rumänien viele Jahre nach dem Ende der Diktatur keine Zweisprachigkeit leben kann, wie dies in der Schweiz so schön der Fall sei. Zu viele Spannungen seien hier an der Tagesordnung.

Als wir vor zwei Jahren in der Konzerthalle in Bukarest auftraten, war ihm die Diktatur plötzlich wieder sehr präsent. Die Halle war die Bühne des Diktators, plötzlich sass er nun auf dieser Bühne; und wenn man das in jungen Jahren immer anhören musste, diese Tiraden, dann steckt man das nicht einfach weg. Es sei ein negativer Gänsehaut-Moment gewesen, sagt er. Das alles sitzt noch sehr tief. Umso mehr, als damals keiner über Politik gesprochen habe; es wäre viel zu gefährlich gewesen, sich zu äussern.

Heimat

Krautwickel mit Fleisch, das vermisse sie schon immer mal wieder, sagt unsere Cellistin Ioana Geangalau-Donoukaras. In Zürich habe sie noch kein Restaurant gefunden, die so gute mache wie jene zuhause. Zuhause und Heimat ist für sie immer noch Rumänien – aber natürlich inzwischen auch die Schweiz. Mit 23 Jahren ging und wollte sie weg. Finanziell war es als Musikerin kaum machbar. Heute lebt sie mit Mann und Kindern (mit denen sie rumänisch spricht) im Grossraum Zürich. Zwei, drei Mal pro Jahr reist sie nach Rumänien – da bleibt sie dann gut zwei Wochen, um eine verständliche Sehnsucht zu stillen. Sie vermisst die Sprache, aber auch die Mentalität. Aber sie hat den Entscheid damals aus Überzeugung gefällt. Sie ging glücklich weg und kommt immer wieder glücklich zurück. Ihre Heimatstadt liegt 160 km nördlich von Bukarest, eine halbe Million Einwohner, eine ähnliche Grösse wie Zürich. Manche Freunde kommen sie besuchen, aber es ist immer eine Kostenfrage, viele seien auch weggegangen. Auch die Eltern kamen regelmässig, aber sie werden älter. Ioana Geangalau-Donoukaras freut sich darauf, sie in diesen Tagen zu sehen, auch dass sie ins Konzert kommen werden, das Orchester hören können und sehen, wo sie glücklich ihrer Arbeit nachgehen kann.

Josef Gaszi und Ioana Geangalau-Donoukaras

Sonntag, 3. September

Auch Cosmin Banica, unser 2. Konzertmeister ist in Rumänien aufgewachsen. Michaela Braun hat mit ihm gesprochen.

Akzeptieren oder gehen?

Eigentlich studierte er in Köln, sagt unser 2. Konzertmeister Cosmin Banica, aber immer mit dem Ziel, wieder in die Heimat zurückzukehren, nicht in Deutschland zu bleiben. Er liebt Rumänien. Und er ist glücklich, dass wir hier beim Festival in Bukarest zu Gast sind. Ein wunderbares Land, eigentlich. Aber eben nur eigentlich. Als er nach dem Studium tatsächlich als Konzertmeister in einem rumänischen Orchester anfing, war bald einmal die Mentalität im Bereich des Orchester-Managements ein Thema. Wer nicht machte, was – oft sehr kurzfristig – entschieden wurde, verlor seinen Job. Akzeptieren oder gehen, sagte er sich damals. Der Entscheid war bitter, aber er hätte zu viele Kompromisse eingehen müssen. 2008 ging er und gewann das Vorspiel bei uns als 2. Konzertmeister.

Bevor er Vater wurde, war er sechs, sieben Mal pro Jahr in Bukarest, vor allem, um seine Freunde zu sehen. Freundschaften, die man in der Schule oder den ersten Berufsjahren schloss, sind für ihn wichtig. Je älter man wird, um so komplexer wird es – und wenn man eine Familie hat, verlagern sich die Prioritäten. Darum geniesst er die Zeit hier daheim so ausserordentlich. Auch die Leichtigkeit des Seins in Rumänien mag er sehr. Mit seinen Kindern spricht er natürlich rumänisch. Und wenn sie grösser sind, möchte er ihnen den Norden und Westen des Landes zeigen. Die Landschaft ist dort eine enorme Idylle, die sich auftut. Und wer Berge liebe, so sagt er, fände dort ein attraktives Wandergebiet.

George Cosmin Banica hinter der Bühne.

Montag, 4. September

Was ist das für ein Festival, an dem das Orchester in Bukarest spielt? Michaela Braun stellt es vor.

Ein Festival von Weltrang

Der Konzertsaal von heute und morgen Abend ist aufgrund seiner Vergangenheit durchaus belastet. Hier schwang einst Nicolae Ceaușescu seine totalitären Reden. Heute ist die Sala Palatului, die 4'000 Menschen fasst, einer von vielen Austragungsorten des 1958 gegründeten George Enescu International Festivals. Wir waren hier bereits vor zwei Jahren zu Gast, heute Abend werden wir unter anderem mit einem Werk von Enescu hier wieder auftreten – das Konzert wird auf Mezzo gestreamt. Wir sind in guter Gesellschaft: Vor uns spielte das London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle hier, zwischen unseren Konzerten tritt das Gewandhausorchester unter Herbert Blomstedt auf. Später kommen neben vielen anderen auch noch das Israel Philharmonic unter Lahav Shani sowie Yuja Wang mit dem Concertgebouw Orchestra unter Klaus Mäkelä.

Auch vor zwei Jahren waren unsere Konzerte schon gut gebucht, heuer übertrifft es die Erwartungen. Über 80% der Konzertkarten sind verkauft. Das gestrige Konzert von Fazil Say war ausverkauft – es gab keine Chance mehr für uns, an Karten zu kommen. Er spielte im Athenäum, einem grosszügigen und spektakulären Konzertsaal. Einer von vielen: Das Festival findet während drei Wochen an fünf verschiedenen Orten statt.

Wie so viele Festivals setzt man auch hier auf die nächste Generation. Die Konzertreihe für Familien und Kinder, dieses Jahr neu von Cristian Măcelaru geplant, ist erfolgreich gestartet. In den Schulen funktioniert die Musikerziehung (mässig) gut, viele Politiker möchten das Fach gerne reduzieren oder gar abschaffen, so hört man es beim Festival. Daher wollen sie hier nun einen Ort für Musikvermittlung neu schaffen. Die Ausbildung für Musiker*innen ist jedoch – noch ein Relikt aus UdSSR-Zeiten – nach wie vor aussergewöhnlich gut.

Das Festival sei in einer Transitionsphase, sagt Vlad Alexandru Robu, Artist Assistant. «Keep the legacy» und werde international sichtbarer, lautet die Mission. Mit konstanter Arbeit will man in die Zukunft, dazu gehören vermehrt internationale Gäste im Publikum, die Bukarest auch wegen des Festivals besuchen. Und natürlich wir als Orchester. Es ist eine Freude, hier zu sein.

Paavo Järvi und Vlad Alexandru Robu, Artist Assistant beim George Enescu Festival in Bukarest. (Foto: Michaela Braun)

Mittwoch, 6. September

Es waren intensive Tage in Bukarest. Aber nun hat die Bratschistin Ursula Sarnthein einen ruhigen Moment gefunden, um das Geschehen seit der Abreise aus Bonn zu schildern.

Das Geheimnis des Höllenhunds

Damit die Instrumente trotz langem Weg von Bonn nach Bukarest rechtzeitig zum Konzert ankamen, flogen unsere Container ausnahmsweise per Luftfracht. Zur Inhaltskontrolle gehört auch, dass ein Hund an den Kisten schnüffelt. Der Frachtbegleiter schickte ein Foto von «Fluffy» (vgl. weiter unten) – ziemlich furchterregend. Fluffy schlug nur an einem Container an, und zwar an dem des Chefdirigenten! Der Corpus delicti war offenbar der mitreisende Ventilator – warum, wird für immer ein Geheimnis bleiben.

Für uns verlief die lange Reise von Bonn nach Bukarest reibungslos, abgesehen davon, dass sich bis jetzt angesammelte Schlafdefizite durch die frühe Abreise um 6.15 Uhr noch verschärften ...

Orange Alert

Es folgt ein ruhiger Tag: Ausruhen von der Reise und vor dem Konzert, Sport treiben, üben, Essen gehen, die Stadt erkunden – einzeln, in Freundes- und/oder Instrumentengruppen – etwas davon stand heute bei jedem auf dem Plan. Entspannt ist auch die Einspielprobe, und routiniert fährt Honeggers «Pacific 231» bei Konzertbeginn durch den Saal. (NB: Es ist ein Stück über einen fahrenden Zug.)

Dann der Schreckmoment: Alle Handys, auch die lautlos gestellten, rumänische wie Schweizer, hinter der Bühne und im Saal, und auch sonst überall im Grossraum Bukarest, geben gleichzeitig einen lauten Warnton ab und zeigen eine «Orange Alert»- Nachricht an. Viele bekommen sie mehrmals, immer mit einem Warnton. Düt-Düt – das Intervall ist eine prägnante grosse Sekunde, es erschallt auch immer dann, wenn wieder jemand im Publikum sein Handy aus dem Flugmodus holt und die Nachricht noch nicht bekommen hat. Und das ist oft.

Nichtsdestotrotz – unser fulminanter Dvořák war von grosser Spielfreude getragen, und das Publikum applaudierte begeistert.

Ein Geschenk

Meine Freundin Verona Maier, Pianistin und Vize-Rektorin der National University of Music Bucharest schrieb mir nach dem Konzert, was das Festival für sie bedeutet:

«Every two years in September, Romanian musicians and music lovers receive the wonderful gift of music – brought to life with professionalism and loving devotion by colleagues and friends from all over the world. Every two years, we and our youngsters find here – at home – new reasons, new meanings and lots of confidence for the next two years and a lifetime. Thank you, Tonhalle Orchestra, for the presence at the Enescu Festival and for your outstanding way of making music. You offer so much to everyone that keeps eyes, ears, mind and soul open.»

Leipzig trifft Zürich – Bruckner trifft Bruckner

Dienstag, 5. September – das zweite Konzert mit Bruckner 9 steht an. Ein anderes Orchester ist in unserem Hotel eingetroffen; es ist zwar Festival-Saison, aber doch ein ungewöhnlicher Zufall, dass wir nun nach dem LPO in Heathrow wieder auf ein reisendes Orchester treffen! Schon beim Frühstück finden sich alte Studienfreund*innen und ehemalige Kolleg*innen – und was besonders ist: zwei Schwestern. Ulrike Schumann, Geigerin im Tonhalle-Orchester, freut sich sehr darüber, auf Tournee in Bukarest Zeit mit ihrer Schwester Katharina, Geigerin im Gewandhaus-Orchester, verbringen zu können! Beide Orchester spielen Bruckner: Das Gewandhaus unter Herbert Blomstedt die 7. um 17 Uhr im Athenäum, wir die 9. um 20 Uhr in der Sala Palatului. Am Abend nach beiden Konzerten werden die Horngruppen beider Orchester beim gemeinsamen Feiern in der Stadt gesichtet …

Und noch ein tierisches Geheimnis

Am Ende des Konzerts segelt sanft eine kleine Feder von der Decke und landet auf der Schulter eines Musikers – welcher Vogel heimlich im Saal wohnt und zugehört hat, wird ebenfalls für immer ein Geheimnis bleiben.

Zoll-Spürhund Fluffy (Foto: Ursula Sarnthein)
Backstage-Schach vor dem Konzert (Foto: Andrada Pavel)
Am ersten Abend spielte der Cellist Andrei Ioniță die «Symphonie concertante» von George Enescu (Foto: Andrada Pavel)
Andrei Ioniță und Paavo Järvi (Foto: Andrada Pavel)
Danach folgte Dvořáks 9. Sinfonie «Aus der Neuen Welt» (Foto: Andrada Pavel)
Paavo Järvi (Foto: Andrada Pavel)
Paavo Järvi mit dem estnischen Präsidenten Alar Karis (2.v.r.) und dem Dirigenten und Festivalleiter Cristian Măcelaru (r.). (Foto: Andrada Pavel)
Blumen für Konzertmeister Klaidi Sahatçi und Paavo Järvi nach Bruckners 9. am zweiten Konzertabend. (Foto: Andrada Pavel)

Donnerstag, 7. September

Inzwischen ist das Orchester in Prag eingetroffen. Mit dabei ist auch Michel Trösch – in besonderer Mission. Michaela Braun hat mit ihm gesprochen.

Doc auf Tour

Er ist spielt Geige, Oboe und Fagott, ist aber kein Musiker; er trägt 10 Kilogramm Material mit sich herum, ist aber nicht der Dirigent mit den Partituren. Er ist unser neuer Tournee-Arzt, Michel Trösch. Ein wichtiger Begleiter im ganzen Tross. Zu ihm haben alle Vertrauen, sei es kurz vor dem Konzert, morgens oder spät in der Nacht, er wird gerufen und ist – so hat man das Gefühl – ständig anwesend. Schläft er genug? Er könne hier sowieso nicht schlafen, sagt er mit einem Augenzwinkern; er könne das ja dann daheim wieder nachholen. Welche Medikamente kann man denn mitnehmen auf so eine Reise? Keine Schwierigkeiten am Zoll, bei der Kontrolle? Nein, da ging alles glatt, abgesehen davon, dass er drei Gepäckstücke hatte, eines zu viel, aber das war sein Problem.

Wenn man in so kurzer Zeit Vertrauen schaffen muss, muss man auf die einzelnen Menschen eingehen können. Michel Trösch nimmt jedes Problem ernst und versucht sich in den Musiker, die Musikerin hineinzudenken. Da er sich für Musik interessiert und selbst Konzerte gibt, geht das gut. Er ist für Problemfälle von Kopf bis Fuss eingerichtet. Auch ein EKG-Gerät hat er dabei. Bisher läuft alles rund auf der Tournee, nur mit einem Londoner Apotheker musste er diskutieren, welches Medikament denn angebracht sei. Er hat sich zu Hause gut vorbereitet auf die Reise, hat die Spitäler in den Tourstädten herausgesucht, die Notfallnummern, die Spezialkliniken. Er weiss, welche Musiker*innen Grundkrankheiten haben und ist gerüstet. Trotz den Einsätzen geniesst er es, mit dabei zu sein. Man schliesst auch neue Freundschaften.

Tournee-Arzt Michel Trösch

Samstag, 9. September

Mit zwei Konzerten im Rudolfinum Prag ging die Tournee zu Ende – und die Bratschistin Ursula Sarnthein berichtet zum letzten Mal, wie es war.

Und jetzt noch Prag

Prag präsentiert sich schon aus der Luft in seiner ganzen Schönheit – vor dem Landeanflug überfliegen wir bei bester Sicht die Stadt und die Moldau (siehe unten). Nun haben wir erst einmal viel Zeit bis zum Konzert am nächsten Abend. Bei dem schönen Wetter hält es wohl nur sehr wenige Musiker*innen im Hotelzimmer. Ich ziehe heute alleine los – aber immer wieder treffe ich in der Stadt auf bekannte Gesichter oder höre ein vertrautes Lachen, und man tauscht sich aus, wo es Spannendes zu sehen gibt oder wo man essen gehen könnte.

Mein persönliches Highlight: Die Musik-Ausstellung der Familie Lobkowitz auf der Prager Burg. Vom 17. bis 19. Jahrhundert haben die Fürsten Lobkowitz Komponisten gefördert, Hofkapellen unterhalten, Musik in Auftrag gegeben, Instrumente gekauft und Werke aufgeführt. Der wohl bekannteste Komponist, den die Familie gefördert hat, war Beethoven. Der Anblick des allerersten Orchester-Notenmaterials für die Aufführung der 5. Sinfonie, oder auch die Aufstellung der Aufführungskosten mit Lohnangaben macht die Orchestermusiker von damals plötzlich irgendwie greifbar. (Ob da wohl Frauen dabei waren??)

Auszeichnungen für das Rudolfinum

Das Rudolfinum in Prag ist ähnlich alt wie die Tonhalle. Hier dirigierte Dvořák 1896 das Gründungskonzert der Tschechischen Philharmonie, bei uns dirigierte Brahms 1895 das Einweihungskonzert der Tonhalle Zürich.

Das Rudolfinum verdient ein paar der Superlative dieser Tournee: Es bekommt ganz klar die Auszeichnung für den schönsten Saal. Dazu aber auch jene für die kleinste Bühne, den gedrängtesten Platz hinter der Bühne und den allerlängsten Weg zur Damengarderobe. Wer hätte nach Bonn gedacht, dass das möglich ist! Netterweise haben die Orchestertechniker diesmal gelbe Zettel mit Wegweisern aufgehängt.

Dvořák in Dvořáks Stadt

Das ist schon was. Das wollen wir wirklich gut machen. Martin Frutiger meint, hier sei er doch etwas nervös wegen seinem Solo im langsamen Satz. Bei den Aufführungen in Bonn und Bukarest konnte er das Solo nicht vorher ausprobieren – hier in Prag nimmt sich Paavo Järvi Zeit dafür. Nach dem Konzert erzählt mir Martin glücklich, dass ihm in Prag die ideale Version gelungen sei. Sein und auch unser Spiel findet die Anerkennung seiner Tante, die Tschechin ist. Sie schreibt ihm nach dem Konzert: «Was für einen tollen Abend ihr da hingelegt habt! Wir kommen zu dem Schluss, dass ihr Euch alle hier umgehend einbürgern lassen könnt. Vielen Dank!» Die Kritiken in der Presse sprechen eine ähnliche Sprache, sehr zu unserer Freude!

Ungewohnter Blumensegen Teil 1

Zum Schlussapplaus kommen zwei junge Frauen in langen roten Kleidern auf die Bühne und bringen Blumen, nicht einen Strauss, nicht zwei, gleich drei übergeben sie Paavo, der auch nur zwei Hände hat. Zeitgleich tragen zwei weitere Damen vor der Bühne zwei grosse Blumenbuketts in Körben herein und
platzieren sie rechts und links vom Dirigentenpodium. Von wem die wohl sind? Der Pförtner vom Rudolfinum wundert sich auch – so viele Blumen auf der Bühne sieht er selten.

Anastasia Kobekina schafft es mit Müh' und Not, ihre vielen Sträusse samt Cello unfallfrei von der Bühne zu tragen. Paavo Järvi weiss sich zu helfen: Er verteilt die Sträusse an verschiedene Musikerinnen und behält nur einen. Auf Tournee können zwar auch wir Musikerinnen mit den schönen Blumen nicht wirklich etwas anfangen – aber in jeder Stadt findet sich jemand Bekanntes im Publikum, dem man nach dem Konzert eine Freude machen kann.

Von der Bühne gefallen

Als wir uns am zweiten Tag zur Morgenprobe für Bruckner 9 auf der engen Bühne zurechtrücken, müssen wir feststellen, dass diese auf der linken Seite mit nun acht Hörnern und unserer vollen Streicherbesetzung überfordert ist. Zwei Bratschen können nicht platziert werden, sie müssen leider draussen bleiben, damit die anderen ihren Bogen durchziehen können.

Ungewohnter Blumensegen Teil 2

Dem Grund für den Blumensegen kam ich dann doch noch auf die Spur. Im Rudolfinum kann man vor einem Konzert anmelden, wenn man den Künstlern Blumen zukommen lassen möchte, und dann werden sie auf der Bühne übergeben. Die riesigen Blumenkörbe am Bühnenrand kamen vom tschechischen Kulturminister und vom Premierminister!

Schlusstakt

Unsere Intendantin Ilona Schmiel freut sich über die sehr erfolgreich verlaufene Tournee. Heute geht sie zuende – die herrlichen Spätsommertage in Prag mit den stimmungsvollen Konzerten im Rudolfinum waren ein schöner Abschluss, aber nun freuen wir uns auf zu Hause. London, wo die Tournee begonnen hat, scheint eine Ewigkeit her zu sein, und auch meine Kinder meinen am Telefon, ich könne langsam mal wieder heimkommen.

Reisen gehört zum Musikerdasein dazu – für mich persönlich ist das ein Teil meines Berufs, den ich ganz besonders mag.

Prag, wir kommen! Foto: Ursula Sarnthein
Das erste Orchester-Notenmaterial von Beethovens Sinfonie Nr. 5 liegt in Prag. Foto: Ursula Sarnthein
Kosten-Aufstellung für die Prager Erstaufführung von Beethovens Fünfter. Foto: Ursula Sarnthein
Hier entlang! Backstage-Bereich im Rudolfinum Prag. Foto: Ursula Sarnthein
Die Noten sind schon bereit vor dem Konzert im Rudolfinum Prag. Foto: Ursula Sarnthein
Das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet das Dvořák Prague Festival. © Petra Hajska, Dvořák Prague Festival
Anastasia Kobekina © Dvorak Prague Festival
Ivo Kahanek © Dvořák Prague Festival
September 2023
Fr 08. Sep
20.00 Uhr

Gastspiel in Prag

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Ivo Kahánek Klavier Beethoven, Bruckner
Do 07. Sep
20.00 Uhr

Gastspiel in Prag

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Anastasia Kobekina Violoncello Dvořák
Di 05. Sep
20.00 Uhr

Gastspiel in Bukarest

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director Bruckner
Mo 04. Sep
20.00 Uhr

Gastspiel in Bukarest

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Andrei Ioniță Violoncello Honegger, Enescu, Dvořák
Sa 02. Sep
19.30 Uhr

Gastspiel in Bonn

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Fabian Müller Klavier Beethoven, Bruckner
Fr 01. Sep
19.30 Uhr

Gastspiel in Bonn

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Anastasia Kobekina Violoncello Honegger, Halter, Dvořák
August
Mi 30. Aug
19.30 Uhr

Gastspiel in London

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Augustin Hadelich Violine Beethoven, Tschaikowsky, Dvořák
veröffentlicht: 30.08.2023