Herrlich, dieser Lauf!
Wenn Arthur Honeggers «Rugby» auf dem Programm steht, wird der Konzertsaal zum Stadion. Unsere Live-Reporterin ist schon bereit.
Willkommen im Konzertsaal, meine Damen und Herren, eine spannende Partie wartet auf uns, auch ohne Rasen und Ball und Torstangen: «Rugby» wird gespielt, ein 1928 entstandener sinfonischer Satz des französisch-schweizerischen Komponisten Arthur Honegger, und in den Einspielzimmern wärmen sich schon die Teams auf. Auch die Trainerinnen und Trainer machen sich bereit, und ja, Sie haben richtig gehört, es sind gleich mehrere: Denn das Spiel findet im Rahmen der Conductors' Academy statt, sechs Kandidatinnen und Kandidaten werden «Rugby» dirigieren – beobachtet und beraten von Chef-Coach Paavo Järvi.
Fünf Minuten dauert es noch bis zum Anpfiff, der – so viel darf ich schon verraten – in diesem Spiel von Flöten, Trompeten und Streichern übernommen wird. Bis dahin möchte ich die Zeit nutzen, um Ihnen ein wenig über dieses Spiel zu erzählen. Arthur Honegger wusste, was er komponiert, er war selbst ein aktiver Sportler, und seine Wochenenden verbrachte er als Zuschauer im Stadion Yves-du-Manoir im Pariser Vorort Colombes, beim Fussball, oder noch lieber beim Rugby, denn dieser Sport sagte ihm mehr zu: wegen des «wilderen, plötzlicheren, verzweifelteren und weniger geregelten Rhythmus».
Aber ob Fussball oder Rugby, die Stimmung im Stadion, diese Stimmung, die Sie gerade jetzt erleben, meine Damen und Herren: Sie hat Arthur Honegger elektrisiert, sie wollte er vermitteln in diesem Stück, diese Farben, diese Energie, die Kraft, die Bewegung, das agonistische Gegeneinander … Eine Programmmusik über konkrete Spielsituationen hatte er nicht im Sinn, aber Sie werden es hören: Dass es hier um Rugby geht und nicht um, sagen wir: Curling – das macht diese Musik unmissverständlich klar.
Und nun, meine Damen und Herren, laufen die Teams ein auf dem Feld – hier, der bemerkenswert raffiniert instrumentierte Anpfiff, und los geht’s. Turbulent, dieser Start, ein bisschen holprig zunächst, es geht hin und her, aber da: ein traumhafter Pass, die Posaunen haben einen guten Lauf, geradezu triumphal. Ja, damit ist das erste Thema gesetzt!
Aber da sind nun auch die anderen Register, das Spiel ist ziemlich kleinteilig gerade, keines der Teams kann sich so richtig freispielen. Fanfaren. Triller. Beeindruckende Beinarbeit der Bässe.
Und nun triumphieren die Geigen und Flöten! Ja, auch sie beherrschen dieses erste Thema. Herrlich, dieser Lauf, die tieferen Register versuchen, dazwischen zu grätschen, aber vergeblich – nein, jetzt sind sie doch wieder da! Was für eine Finte der Blechbläser, meine Damen und Herren, was für eine Intensität! Sie merken es, ich komme kaum nach mit meinem Kommentar, es geht nun bereits wieder hin und her und durcheinander. Aktionen werden gestartet und gestoppt, kein Team kann sein Spielschema so richtig durchziehen.
Wieder ein Haken. Wunderbar, wie sich die Geigen freispielen. Ein überaus korrektes Spiel übrigens, meine Damen und Herren, die Teams schenken sich nichts, voller Körpereinsatz, volle Energie – aber bisher gab es keine gröberen Schrammen, und dies, obwohl aus naheliegenden Gründen ohne den ansonsten obligatorischen Zahnschutz gespielt wird.
Jetzt wird es plötzlich ruhig, aber diese Ruhe, sie täuscht, da lädt sich etwas auf. Die Teams lauern auf ihre Chancen, warten ab, heizen sich gegenseitig an, bis – da, ein neues Thema! Die hohen Streicher legen es vor, die Hörner kommen dazu, geradezu entspannt breiten sie sich aus auf dem Feld. Erstaunlich.
Aber nun sind sie ins Leere gelaufen, es geht weiter mit Angriff, Gegenangriff, man organisiert sich neu. Fantastisch, dieser Rhythmus in den Spielzügen. Und wie die Holzbläser auf die neue Taktik und das neue Thema der Streicher eingehen! Ja, wenn man das so erlebt, meine Damen und Herren, dann kann man sich nur wundern, dass der Sport nicht öfter als musikalische Inspirationsquelle gedient hat. Charles Ives veranstaltete 1898 ein «Yale-Princeton Football Game», und Erik Satie inszenierte «Sports et divertissements» 1914 als Klavierzyklus. Dann darf man noch Claude Debussys Tennis-Ballett «Jeux» von 1912 erwähnen, viel mehr war da nicht.
Auf dem Feld ist das Spiel nun in der Endphase angelangt. Von Erschöpfung keine Spur, die Teams geben alles, das bleibt dynamisch bis zum letzten Moment. Es ist ein erhabener Moment, ein Schlusspunkt in strahlendem D-Dur, denn es war ein grosses Spiel, meine Damen und Herren. Rund acht Minuten hat es gedauert, und wenn Sie mich fragen, ob das nun ein Zehntel eines realen Rugby-Spiels war oder die zehnfache Verdichtung einer ganzen Partie, dann würde ich zweifellos für Letzteres plädieren.
Wer gewonnen hat, diese Frage kann ich Ihnen dagegen nicht beantworten, und vielleicht ist dies gerade das Schöne hier: In der Musik gewinnen alle.
Und damit gebe ich zurück ins Studio.
Conductors' Academy
Sie möchten live dabei sein, wenn sechs junge Dirigent*innen mit Paavo Järvi Honeggers «Rugby» und andere Werke einstudieren? Dann können Sie das kostenlos in der Grossen Tonhalle – oder überall auf der Welt im Streaming.