
Unnachgiebige Zeugen
Das Schostakowitsch-Jahr 2025 feiern wir mit einem Zyklus aller seiner Streichquartette. Den Auftakt machen in dieser Saison die Nummern 1 bis 9. Dabei begegnen wir dem politisch bedrängten Komponisten, sarkastischen Gegenentwürfen und Doppelwidmungen sowie – mehr als einmal – Lady Macbeth.
Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) schrieb 15 Sinfonien und 15 Streichquartette. Während die Sinfonien immer wieder den kritischen Blick der Zensur auf sich zogen, konnte er in seinen Streichquartetten freier aufspielen – wenn auch nicht selten im Geheimen. Waren sie zunächst eine Möglichkeit zu experimentieren, wurden sie später zu klingenden Spiegelbildern einer Innenwelt, die er bewusst vor der Öffentlichkeit verbarg.
Streichquartett Nr. 1
Mit seiner Oper «Lady Macbeth von Mzensk» hatte Schostakowitsch im Jahr 1936 den Machthaber Stalin und die Parteigefolgschaft gegen sich aufgebracht. Zudem befeuerte die Zeitung «Prawda» unter dem Titel «Chaos statt Musik» eine existenzbedrohende Kampagne gegen ihn. Trotz eines zermürbenden Katz-und-Maus- Spiels – enge Weggefährten von Schostakowitsch wurden inhaftiert, verbannt oder gar erschossen − komponierte er unbeirrt weiter. Es entstanden seine Sinfonien Nr. 4 und 5. Danach, so schrieb er 1938, habe er «ein ganzes Jahr lang nichts gemacht», «lediglich ein Quartett komponiert». Es war sein erstes Streichquartett: «Ich schrieb die erste Seite als eine Art Übung und dachte überhaupt nicht daran, es zu beenden oder gar zu publizieren ... Die Arbeit hat mich aber so in den Bann gezogen, dass ich den Rest unglaublich schnell fertig hatte.» Er ist kritisch mit seinem «frühlingshaften » Erstling, auch weil er sich der grossen Tradition der Gattung bewusst ist. Fürsprecher loben die «kluge Einfachheit», die an die Gedichte von Puschkin erinnere. Die Aufführungen in Leningrad und Moskau gelingen, auch dank der Interpreten. Vor allem mit den Mitgliedern des Beethoven-Quartetts findet er enge Wegbegleiter, die künftig fast all seine Kammermusik-Werke aufführen werden.
Streichquartett Nr. 2
1944 «beunruhigte» Schostakowitsch die «Blitzeseile», mit der er komponierte: «Das ist zweifellos schlecht.» Noch ist das Streichquartett für ihn eine Art Experimentierfeld. So hat im Zweiten Quartett Folklore ebenso einen Platz wie seine Auseinandersetzung mit der Bühnenkunst nach barocken Mustern. Entsprechend überschreibt er in diesem Quartett die ersten Sätze opernhaft mit «Ouvertüre» und «Recitative und Romance».
Streichquartett Nr. 3
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde von Schostakowitsch nicht weniger erwartet als eine monumentale Chorsinfonie, die den Sieg des Sowjetischen Volks und Stalins feiern sollte – zumal es seine 9. Sinfonie war. Er aber präsentierte im November 1945 einen kompletten Gegenentwurf zum Beethoven'schen Vorbild: ein kurzes, heiter-groteskes Sinfonien- Scherzo. Der Charakter dieses keineswegs leichtfüssigen Werks spiegelt sich auch im Streichquartett Nr. 3 – seine einzige Komposition des Jahres 1946. Vor allem die raffinierten melodisch-harmonischen Wendungen sowie die rhythmische Prägnanz sprechen die unverkennbare Sprache Schostakowitschs.
Streichquartette Nr. 4 und Nr. 5
1948 geriet Schostakowitsch erneut in den Fokus der stalinistischen Kulturpolitik, diesmal mit der Begründung, dass seine Musik massgeblich «antinationale und formalistische Tendenzen» verkörpere. Er führte die «Schwarze Liste» von geächteten Künstlern an und wurde seiner Professuren in Leningrad und Moskau enthoben. In der Folge fuhr er zweigleisig – zum einen trat er weiterhin öffentlich auf und verlas ihm zugesteckte Reden auf den politischen Bühnen, zum anderen verschloss er sich gegenüber gesellschaftlichen Kontakten im Privaten. Und er komponierte für die Schublade, so auch die Streichquartette Nr. 4 (1949) und Nr. 5 (1951). Die Doktrin der Parteiführung und Stalin selbst hätten weder die verwendete jüdische Folklore im vierten noch die hörbare Auseinandersetzung mit westlicher Avantgarde im fünften geduldet. Beide Quartette wurden erst nach Stalins Tod 1953 uraufgeführt.
Streichquartett Nr. 6
Im Dezember 1953 wurde Schostakowitschs Sinfonie Nr. 10 uraufgeführt – bis heute eines seiner repräsentativsten Werke, das gerade im Westen grosses Aufsehen erregte. Das vermeintliche «Tauwetter» in der Sowjetunion verlief in Bezug auf den Komponistenverband jedoch eher zäh – ein Prozess, der offenbar auch seine Kräfte forderte. In seiner Rede beim Kongress des Komponistenverbands fand er klare Worte: «Wozu diese gehässige Demagogie, die die schöpferische Diskussion, die wir so sehr brauchen, nur hemmt!» Gehemmt war auch sein eigenes Schaffen: Nach seiner 10. Sinfonie und dem Tod seiner ersten Frau Nina sowie seiner Mutter war 1956 das Streichquartett Nr. 6 der erste Versuch, die Schaffenskrise zu überwinden.
Streichquartett Nr. 7
Musikalisch nahm Schostakowitsch von seiner 1954 verstorbenen Ehefrau Nina erst einige Jahre später Abschied, 1960: mit dem Streichquartett Nr. 7. Dieses widmete er explizit ihrem Andenken. Wie so oft bei ihm ist die vermeintliche Leichtigkeit trügerisch. Im komprimiertesten seiner Streichquartette lässt er die Sätze attacca ineinander übergehen, etabliert aber zugleich wiederkehrende und damit sinnstiftende Dreiklangfolgen und Dreierrhythmen. Das Lento als veritables Herzstück zielt ins Innerste, verzichtet jedoch auf jeden sentimentalen Anflug von Kitsch – und berührt gerade deswegen in besonderer Weise. Das forsche Aufbäumen im Allegro und im Allegretto ist vergebens; «morendo» endet das Quartett, schlicht und dennoch hochemotional.
Streichquartett Nr. 8
Nur wenige Monate später, im Sommer 1960, entstand ein derart zentrales Werk – für Schostakowitsch wie für die Quartett-Literatur allgemein –, dass man allein diesem Streichquartett Nr. 8 ganze Abhandlungen widmen könnte. Es beginnt schon mit dem bizarren Setting des Entstehens: Schostakowitsch weilte in der Deutschen Demokratischen Republik, wo er die Musik für einen Dokumentarfilm über die Zerstörung Dresdens während des Zweiten Weltkriegs fertigstellen wollte – und unter dem Eindruck der Augenzeugenberichte innerhalb von drei Tagen sein 8. Streichquartett komponierte, gewidmet den Opfern von Krieg und Faschismus. Es gibt aber eine inoffizielle doppelte Zueignung: In einem berühmten Brief bezeichnet er das Werk sarkastisch als eines, «das für niemanden einen Nutzen hat und ein ideeller Fehlschlag» sei. Da für ihn selbst wohl keiner ein musikalisches Andenken schreiben werde, habe er das nun selbst erledigt, sodass auf dem Umschlag stehe könne: «Gewidmet dem Andenken des Komponisten dieses Quartetts». Tatsächlich ist es durchdrungen von seinem musikalischen Monogramm D-Es-C-H, das er bereits in seinem Ersten Violinkonzert und in der Sinfonie Nr. 10 einsetzte, sowie von zahlreichen Selbstzitaten aus früheren Werken wie etwa «Lady Macbeth von Mzensk». Die Ausdruckskraft, die sich in diesem Quartett summiert, scheint im Moment des Erlebens und des Ersterbens (abermals endet ein Quartett «morendo») kaum zu übertreffen.
Streichquartett Nr. 9
Das Triptychon der Widmungsquartette komplettiert 1964 das Streichquartett Nr. 9, das Schostakowitsch seiner dritten Frau, Irina Supinskaja, zugeeignet hat. Diese unerwartete Volte in seinem Leben kommentierte er quasi musikalisch: Auf das c-Moll-Quartett Nr. 8 folgte die Wendung nach (Es-)Dur, in die parallele Dur-Tonart. Und da es bei Schostakowitsch nicht selten anders kam als gedacht, überrascht es kaum, dass dieses neunte Quartett als kleinzuhaltendes, einfaches Werk konzipiert war. Von zweitem oder drittem Frühling keine Spur. Es wurde eine geradezu monumentale Demonstration sinfonischen Ringens. Stellvertretend zeigt das der Finalsatz, der allein mit 10 Minuten etwa so lang ist wie das gesamte Quartett Nr. 7. Er beeindruckt durch seine Unnachgiebigkeit – und steht damit «pars pro toto» für den, der es schuf.
Jerusalem Quartet
Auf drei Konzerte verteilt interpretiert das Jerusalem Quartet die Quartette Nr. 1 bis 9. In der Saison 2025/26 folgen dann die Quartette Nr. 10 bis 15 (Sa 29. / So 30. Nov 2025).