Paavo Järvi und Ilona Schmiel (Foto: Sabina Bobst)
Interview

«Es geht immer um Verbindungen»

Wohin geht die Reise, musikalisch und geografisch? Unser Music Director Paavo Järvi und unsere Intendantin Ilona Schmiel über offene Türen, Tramfahrten und Tourneen.

Interview: Susanne Kübler

Bevor wir über die bevorstehende Saison sprechen: Reden wir erst von der ferneren Zukunft. Ihr habt beide den Vertrag bis 2029 verlängert. Welches sind die grossen Themen bis dann?

PJ Knapp gesagt: Es geht darum, das volle Potenzial des Orchesters auszuschöpfen. Als ich hierhergekommen bin, nannte ich Weltklasse als Ziel. Nun: Das Orchester ist Weltklasse. Aber das Schöne an der Musik ist, dass es immer noch ein Schrittchen weitergeht.

IS Paavo hat 2019 wenige Monate vor Ausbruch der Pandemie hier begonnen, wir mussten vieles verschieben. Jetzt haben wir eine perfekte Ausgangslage erreicht: Er und das Orchester haben inzwischen viele gemeinsame Erfahrungen gesammelt, die renovierte Tonhalle Zürich bietet hervorragende Bedingungen. Um von diesem Punkt aus noch weiterzukommen, braucht es Extra- Energie, aber auch Kontinuität, Vertrauen.

Was bedeutet das fürs Programm?

PJ Extra-Energie und Kontinuität! Zum Auftakt der neuen Saison führen wir unseren Bruckner-Zyklus weiter, mit der Neunten. Und im Februar 2024 beginnen wir einen Mahler-Zyklus, der uns in den nächsten Jahren beschäftigen wird. Das ist die logische Fortsetzung unserer bisherigen Arbeit, Mahlers Werk ist der Kulminationspunkt der deutschen Sinfonik. Ich liebe ja viele Komponisten, aber ich kenne keinen, der ein so reiches Innenleben hatte – und das so fantastisch in Musik übertragen konnte.

Du kennst natürlich David Zinmans Mahler-Zyklus …

PJ Ja, und ich finde ihn sehr gut. Aber man kann bei diesen Werken nie sagen: Die haben wir bereits gemacht. Jeder Interpret nimmt eine neue Perspektive ein, es geht immer weiter. Übrigens nicht nur auf der Bühne: Damit wir weiterkommen, müssen sich die musikalische Qualität und das Renommee parallel entwickeln. Genauso wichtig wie das, was auf der Bühne passiert, ist das Geschehen dahinter – dass der Konzertbetrieb reibungslos läuft, dass wir Geld haben für wichtige Projekte, dass wir in den Sozialen Medien das bieten, was man heute Content nennt. Und vor allem: dass wir das Publikum erreichen.

IS In diesem Bereich gibt es tatsächlich Herausforderungen. Das Publikum verhält sich anders seit Corona, es ist alles viel kurzfristiger geworden; die letzten zwei Tage vor einem Konzert sind entscheidend. Für uns heisst das, ständig zu evaluieren, was gut funktioniert. So haben wir zum Beispiel festgestellt, dass nicht nur ein jüngeres Publikum die kurzen Formate mag. Das Konzept tonhalleCRUSH etwa, das wir in der letzten Saison eingeführt haben, war auf Anhieb erfolgreich: Im ersten Teil hört man ein Orchesterwerk, in der zweiten Hälfte spielen Orchestermitglieder im Konzertfoyer ganz andere Musik – Folk, Jazz, Blues, Klänge aus ihrer Heimat. Wir versammeln über 20 Nationen und ganz unterschiedliche musikalische Hintergründe in unserem Klangkörper. Das wollen wir dem Publikum zeigen.

Wir wollen nicht einfach Superstars präsentieren, sondern ungewöhnliche Persönlichkeiten mit besonderen Geschichten.

Neben Mahler: Was wird neu in der bevorstehenden Saison?

PJ Ich arbeite zum ersten Mal mit dem Cellisten Kian Soltani zusammen! Er ist einer unserer Fokus-Künstler – ein sehr spannender Musiker. Er ist in Österreich aufgewachsen, seine Familie stammt aber aus dem Iran; und er wird nicht nur die grossen Cellokonzerte von Schumann und Dvořák spielen, sondern auch persische Musik, unter anderem mit seinem Vater. Auch die zweite Fokus-Künstlerin, die lettische Organistin Iveta Apkalna, bewegt sich oft abseits des Mainstreams. Wir wollen ja als Fokus-Künstler*innen nicht einfach Superstars präsentieren, sondern ungewöhnliche Persönlichkeiten mit besonderen Geschichten.

IS Das gilt auch für den Creative Chair dieser Saison: Bryce Dessner ist in den USA als E-Gitarrist und Rockmusiker bekannt geworden, insbesondere mit der Band The National. Wenn so jemand in die klassische Welt einsteigt, mit seinen Mitteln, dann ist das hochinteressant. Paavo wird sein Orchesterwerk «Mari» dirigieren. Bei «St. Carolyn by the Sea» wird Bryce Dessner selbst auf der Bühne stehen. Dann präsentiert er ein musikalischvisuelles Projekt mit dem Titel «Electric Fields», das u.a. David Chalmin, die Labèque- Schwestern und die Sängerin Barbara Hannigan gestalten. Alice Sara Ott bringt ein Klavierkonzert zur Uraufführung, das er für sie geschrieben hat. Und Pekka Kuusisto wird sein Violinkonzert spielen …

Bryce Dessners Violinkonzert wird von Joana Mallwitz dirigiert, «St. Carolyn by the Sea» von Simone Young. Zudem wird mit Alondra de la Parra eine dritte prominente Dirigentin mit dem Orchester arbeiten. Zufall oder Absicht?

IS Es geht nicht um eine Quote, sondern ausschliesslich um Qualität, das möchte ich vorausschicken. Wir schauen immer, wer zu uns passen könnte. Wenn Joana Mallwitz begeistert ist von der Idee, ihr Debüt bei uns mit Pekka Kuusisto und Bryce Dessner zu geben, dann passt das perfekt. Auch Simone Young gibt ihr Debüt mit uns, neben Dessner dirigiert sie Kompositionen von Strawinsky und Strauss, die in ihr Kernrepertoire gehören. Alondra de la Parra übernimmt einmal mehr das Silvesterkonzert, mit ihr haben wir bereits eine besondere Verbindung. Und es ist mir wichtig zu ergänzen: Paavo wird mit einer neuen Assistant Conductor arbeiten.

PJ Ja, mit Margarita Balanas aus Lettland. Sie ist eine sehr gute Cellistin, und ich traue ihr auch als Dirigentin eine wirkliche Karriere zu. Es ist ja heute mysteriöser denn je, was es braucht für diesen Beruf, gerade wegen der wachsenden Zahl von Dirigentinnen. Da werden auch rein optisch Stereotype aufgebrochen, wie «der Dirigent» auszusehen hat. Aber man merkt sofort, ob jemand das gewisse Etwas hat; sie hat es.

IS Übrigens wird die letztjährige Assistant Conductor Izabelė Jankauskaitė ein Familienkonzert dirigieren. Das ist für uns zentral, es geht immer um Verbindungen: mit Gästen, die schon seit Jahrzehnten dazugehören wie unser Ehrendirigent David Zinman oder Herbert Blomstedt. Mit ehemaligen Fokus- Künstler*innen wie Pekka Kuusisto, Janine Jansen oder den Labèque-Schwestern. Und eben auch mit neuen Protagonist*innen, mit denen wir uns eine längerfristige Zusammenarbeit wünschen.

Apropos Verbindungen: Wie entwickeln sich die Kontakte zu anderen Zürcher Institutionen?

IS Kollaborationen sind extrem wichtig für uns. Damit öffnen wir Türen zwischen den Künsten, etwa in den visuellen Bereich: Da gibt es in den nächsten Monaten Projekte mit dem Museum für Gestaltung und der Galerie Hauser & Wirth. Auch die Vernetzung im Bereich der Ausbildung bleibt ein Anliegen. Zusammen mit Superar Suisse, mit Musikschule Konservatorium Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste schaffen wir ganz unterschiedliche Zugänge. Und wir erweitern diese bewährten Kooperationen auch in der kommenden Saison wieder um wichtige Angebote, etwa Probenbesuche für heilpädagogische Schulen. Im besten Fall wird die Tonhalle Zürich zu einer Art «Zuhause» für Kinder und Jugendliche, für deren Freunde und Familien.

PJ Ich freue mich auch sehr auf die Weiterführung des gemeinsamen Rachmaninow- Zyklus mit dem Opernhaus Zürich: Im November tauschen Gianandrea Noseda und ich die Pulte und die Orchester – und wir teilen uns den Pianisten Francesco Piemontesi als Solisten. Das ist gut für uns und gut für die Musikstadt Zürich. Übrigens bin ich auch sonst öfter unterwegs in der Stadt: Für unsere neue Videoreihe «Tram for Two» fahre ich mit Solist*innen durch die Quartiere, wir reden über alles Mögliche. Ich mag solche Ideen, die auf gute Weise leichtherzig sind. Wenn ich zurückdenke, hat sich bei mir alles Wichtige so ergeben, über eine angenehme Erfahrung, einen Scherz, ein Spiel. Wenn ich etwas für eine Prüfung lernen musste, habe ich es jeweils sofort wieder vergessen.

IS Ja, Spielfreude ist so wichtig! Ich hatte ein Schlüsselerlebnis mit zwei jungen Start-up- Gründern, die mir eine Virtual-Reality-Brille aufgesetzt haben. Es ging um ein Beethoven- Game. Ich dachte ja, ich wüsste viel über Beethoven, aber dass man ihn als Coach in einen Rap-Battle begleitet, das war für mich komplett ausserhalb des Vorstellbaren. Im September präsentieren wir das Game nun im Konzertfoyer – in einer Woche, in der Paavo mit dem Pianisten Olli Mustonen und unserem Orchester ein Beethoven-Programm spielt. Auch das ist wieder eine ideale Verbindung.

Die Präsenz in der Stadt ist das eine, die Präsenz in der Welt etwas anderes. Tourneen werden heute oft kritisiert. Warum touren wir dennoch?

IS Auf Tourneen passiert enorm viel. Wir leben eine Zeit lang zusammen, der Alltag fällt weg – da entsteht eine ganz andere Intensität im Orchester. Entscheidend ist, wie man reist: dass man sinnvolle Routen plant und genau überlegt, wo man welches Repertoire spielt, um ein «erfolgreicher Botschafter» für Zürich und die Schweiz zu sein. Im September eröffnen wir Festivals in Bonn und Prag, das sind bedeutende Schaufenster; dazwischen kehren wir an das Internationale George Enescu Festival in Bukarest zurück, wo man uns bereits sehr schätzt. An all diesen Orten geben wir zwei Konzerte. In Asien wird dann Tokio für mehrere Tage unsere Basis sein: Wir treten in der Suntory Hall auf und schwärmen von dort in benachbarte Städte aus. Und wenn wir in Seoul sind, wo es so viel junges Publikum gibt – dann spüren wir deren Begeisterung, unmittelbar und nachhaltig!

PJ Für mich ist genau dieser Enthusiasmus der Grund für Tourneen. Wenn wir anderswo Erfolg haben, stärkt das unser Selbstbewusstsein; das beflügelt uns wiederum bei unseren Auftritten zu Hause. Es gehört alles zusammen: die Konzerte in Zürich und der Erfolg in der Welt; die Live-Auftritte, bei denen wir das Publikum gewinnen können, die CDs, die sie uns zum Signieren bringen, und die Streamings, mit denen wir uns in Erinnerung halten. Wenn wir in den nächsten Jahren weiterkommen wollen, Schritt für Schritt: Dann braucht es all das.

veröffentlicht: 10.07.2023